Jan Albert de Grave und das Rätsel der 37 Glocken für die Berliner Parochialkirche

 

Von Jeffrey Bossin

 


Die Parochialkirche war wegen ihres schönen Carillons einzigartig in Berlin. Die sogenannte „Singuhr“ schlug die Stunden und spielte mittels einer großen mechanischen Walze regelmäßig Melodien und Choräle. Dazu musizierte der Carillonneur oder Glockenspieler mit den Füßen und den geballten Fäusten auf dem Stockspietisch dieses großen Turmglockenspiels. Dessen rein mechanische Traktur ermöglichte ihm eine ausdrucksvolle Vortragsweise. Doch diese für Berlin einmalige Vorrichtung war nicht Teil des ersten Kirchenbaus, der 1703 ohne einen Turm eingeweiht worden war. Zwei Jahre später fügte der Architekt Martin Grünberg einen niedrigen Turm hinzu, der mit einer Turmuhr und einem Geläute ausgestattet war. Als die Kirchengemeinde sich 1713 dazu entschloß, den Turm zu erhöhen, schenkte König Friedrich Wilhelm I., der nach dem Tode seines Vaters am 12. Februar den Thron bestiegen hatte, der Kirche ein Carillon mit 37 Glocken, das im neuen oberen Abschnitt des Turms installiert werden sollte. Im Gegensatz zu den Niederlanden hatte das Kurfürstentum Brandenburg jedoch keine Glockengießer, die Carillons herstellen konnten, und keine Turmuhrmacher, die wußten, wie sie zu installieren wären. Wie kam der König auf die Idee, ein Carillon zu schenken?

     Die Geschichte dieses Instruments hatte ihren Anfang schon ein Vierteljahrhundert früher. Bereits Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der sogenannte Große Kurfürst, hatte vor, ein Carillon installieren zu lassen. Er hörte die Instrumente in den Niederlanden, mit denen er enge familiäre, kulturelle, religiöse und politische Bindungen hatte. Im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren studierte er von 1634 bis 1638 an der Universität zu Leiden und lernte Schiffbau in Amsterdam. Dort hörte er immer wieder die Musik der Carillons und Turmglockenspiele, die von den Türmen jener Städte erklangen. In Leiden gab es ein Carillon mit 23 Glocken des Delfter Gießers Heinrich von Trier im Turm des Rathauses und ein automatisches Glockenspiel mit 16 Stimmen von Pieter van den Ghein aus Mecheln im ehemaligen Sankt Jacobs­gasthaus. Auch die Amsterdamer Zuiderkerk und die Oudekerk hatten von Hand gespielte Carillons, wobei das Instrument der Oudekerk 28 Glocken des Utrechter Gießers Hendrick Aeltsz. van Meurs umfaßte.

     Als Friedrich Wilhelm nach dem Tode seines Vaters 1640 selber Kurfürst von Brandenburg wurde, nahm er die Niederlande auf Grund ihres hoch entwickelten Staatswesens und regen Handels zum Vorbild. 1646 heiratete er die niederländische Prinzessin Luise Henriette von Oranien und brachte soviele holländische Architekten, Künstler, Handwerker, Kaufleute und Bauern nach Berlin, um das vom Dreißigjährigen Krieg ausgelaugte Brandenburg wiederaufzubauen, daß sich eine „holländische Kolonie“ in Berlin und Potsdam etablierte. Er wurde auch im evangelisch-reformierten Glauben erzogen, der von der Schweiz ausgehend sich bald in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden verbreitete und auch von den brandenburgischen Kurfürsten angenommen worden war. Er unterstützte die Niederlande auch politisch und 1672 verbündete er sich mit ihnen, Österreich und Spanien, um sie vor einem Angriff der Engländer und Franzosen zu schützen.

     Damals hatte die Niederländische Republik einen kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Höhepunkt – das sogenannte „Goldene Zeitalter“ – erreicht. Die Gebrüder Hemony, die zu dieser Zeit Gießereien in Amsterdam und Gent leiteten, hatten als erste gelernt, akkurat gestimmte Glocken herzustellen, und von 1644 bis 1678 lieferten sie 47 Carillons für Städte in den Niederlanden und Flandern. Die automatischen Spielvorrichtungen, die mit ihnen verbunden waren, glichen riesigen Spieluhren, die mittels einer Walze die Uhrzeit mit Stundenschlag und einer Melodienfolge markierten. In einem Zeitalter, wo nur die Reichen sich Uhren leisten konnten, waren die im weiten Umkreis hörbaren Zeitsignale der Carillonautomatik eine wichtige und nützliche Hilfe für die Stadtbevölkerung. Als Symbole der Macht und des Reichtums der untereinander konkurrierenden Städte und als Zierat der barocken Pracht, die die Residenzen Europas nach dem Vorbild von Versailles entfalteten, wurden Carillons bald auch außerhalb der Niederlande und Flandern begehrt. Der Erzbischof und Kurfürst von Mainz Johann Philipp von Schönborn kaufte 1660 oder 1661 ein Carillon mit 21 Glocken und einem Stockspieltisch von François Hemony für die Mainzer Liebfrauenstiftskirche. Ein weiteres und ähnliches von ihm ging im September 1661 an die Sankt Katharinenkirche in Hamburg. 1665 erhielt die Sankt Gertruds-Kirche in Stockholm ein Carillon von den Gebrüdern Hemony mit 29 Glocken, und 1670 lieferte Pieter Hemony ein drittes Carillon nach Deutschland. Diesmal erwarb es der Landgraf Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt, der sich 1664 von dem neuen Turmglockenspiel des benachbarten Kurfürsten von Mainz zum Kauf eines eigenen Instruments anregen ließ. Es wurde im Treppenturm seines neuen Residenzschlosses in Darmstadt installiert. 1674 stellte der Antwerpener Gießer Melchior de Haze ein Carillon für das spanische Kloster San Lorenzo de el Escorial her, und 1685–1690 goß er Instrumente für Madrid, El Prado und die königliche Schloßanlage in Aranjuez.

     Auch der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm nahm sich vor, ein Turmglockenspiel zu erwerben. Er herrschte über das Herzogtum Preußen, das sein Vater 1618 geerbt und mit Brandenburg vereinigte hatte. Die preußischen Stände, die unter den von dem brandenburgischen Kurfürsten ihnen auferlegten hohen Steuern litten und den Anspruch des Kurfürsten auf absolutistische Herrschaft und souveräne Entscheidungsmacht ohne ihre Zustimmung nicht akzeptierten, erhoben sich ab 1656 in Königsberg gegen den Kurfürsten. Ihm gelang es jedoch 1662, den Aufstand niederzuschlagen.

     Die Bewohner Preußens waren jedoch seit 1523 Lutheraner und weigerten sich, den evangelisch-reformierten Glauben des Kurfürsten anzunehmen. Am Ende seines Lebens ordnete er den Bau der ersten evangelisch-reformierten Kirche in Königsberg[1] und des ersten größeren Gotteshauses Preußens für seine Glaubensgemeinschaft an[2]. Diese umfaßte nicht nur englische, niederländische und schottische Zuwanderer, sondern auch eine wachsende Zahl einheimischer Deutscher, insbesondere solcher, die zu den gebildeten Adeligen gehörten. Die für das Jahr 1685 vorgesehene Grundsteinlegung mußte jedoch verschoben werden. Nach Friedrich Wilhelm sollten niederländische Kirchen als Vorbild für sein neues Gotteshaus dienen, und 1687, ein Jahr vor dem Tod des Kurfürsten, entwarf Johann Arnold Nering, der Ingenieur-Oberst im Generalstab des Kurfürsten, die Evangelisch-Reformierte Parochialkirche, die im 19. Jahrhundert in Burgkirche umbenannt wurde. Die Krone auf der Turmspitze von Nerings Entwurf versinnbildlicht die Beziehung des Herrschers zu dieser Kirche. Der Entwurf ähnelte dem neuen, 1714 fertiggestellten Turm der Evangelisch-Reformierten Parochialkirche in Berlin in vielen Hinsichten, und beide hatten sogar eines gemeinsam: ein Turmglockenspiel.

     Der obere Abschnitt von Nerings Königsberger Turmentwurf enthält mindestens neun Glocken unterschiedlicher Größen, die an drei Querbalken im oberen Teil des vorderen Fensters hängen. Allerdings ist es nicht klar, wieviele Glocken insgesamt vorgesehen worden waren und ob dies ein automatisches Turmglockenspiel wie das erste Instrument der Potsdamer Garnisonkirche oder ein von Hand gespieltes Carillon werden sollte. Im Gegensatz zu Philipp Gerlachs Zeichnung der fertiggestellten Parochialkirche aus dem Jahre 1715 hat Nerings Zeichnung keine Spielkabine für einen Carillonspieltisch. Allerdings haben die Entwurfszeichnungen für den Münzturm des Berliner Stadtschlosses und die Berliner Parochialkirche, in denen von Hand gespielte Carillons installiert werden sollten, ebenfalls keine Spielkabine und sogar meistens nicht einmal eingezeichnete Glocken. Aber egal auf welcher Art, solche Turmglockenspiele dienten den Stadtbewohnern, indem sie nicht nur die richtige Uhrzeit regelmäßig angaben, sondern auch Kirchenchoräle spielten, welche die Feste des Kirchenkalenders markierten, die Bevölkerung zu kirchlicher Lebensweise ermahnten und stets an die Lehren der Kirche erinnerten[3].

     Die Evangelisch-Reformierte Parochialkirche in Königsberg wurde zwischen 1690 und 1699 errichtet. Der Sohn und Nachfolger des 1688 verstorbenen Großen Kurfürsten, Kurfürst Friedrich III., legte 1690 den Grundstein des Baus und weihte die fertiggestellte Kirche am ersten Sonntag nach seiner Krönung zum ersten preußischen König am 18. Januar 1701 ein. Jedoch wurde aus Geldmangel nur der unterste Teil des Turms gebaut und mit einem niedrigen Dach abgeschlossen. Die oberen Geschosse mit der Uhr und dem Carillon wurden nie hinzugefügt.

 







Friedrich III.
wurde durch den Bau dieser Kirche und durch Johann Arnold Nering, den er 1691 zum kurfürstlich-brandenburgischen Ober­­­baudirektor ernannte, möglicherweise mit dem Carillonprojekt seines Vaters bekannt. Sein Interesse an dem Instrument war Teil seiner engen Beziehung zu den Niederlanden, die bereits seine Eltern gepflegt hatten. So schloß er sich als protestantischer Monarch der Koalition an, die Wilhelm von Oranien gegen das katholische Frankreich im Neunjährigen Krieg 1688 bis 1697 zusammenführte.
Schon als Kind wurde er von seiner Mutter 1666 unter der Obhut seines Tutors Freiherr Otto von Schwerin zur medizinischen Behandlung nach den Niederlanden geschickt. Dort residierte er im Schloß Isselstein in der Nähe von Utrecht und als er die Stadt besuchte, hörte er die Klänge des neuen großen Carillons, das die Gebrüder Hemony nur zwei Jahre zuvor im Utrechter Dom installiert hatten. Otto von Schwerin soll ihm und seinen älteren Bruder Carl Emil auch Amsterdam gezeigt haben, wo die Gebrüder Hemony vor einigen Jahren vier Carillons und ein automatisches Glockenspiel für verschiedene Türme der Stadt geliefert hatten. Solche Instrumente waren auch in dieser Zeit in anderen Teilen Europas weiterhin begehrt. 1696 erwarb Johann Ernest Graf von Thun, der Erzbischof von Salzburg, ein Carillon von Melchior de Haze für die Neue Residenz, das allerdings nur als automatisches Glockenspiel eingerichtet wurde. 1691 bekam das Loretoheiligtum in Prag ein automatisches Turmglockenspiel des Amsterdamer Gießers Claude Fremy, dessen Glocken die Stadt Alkmaar als unzureichend zurückgewiesen hatte. 1694 stellte Fremy ein Carillon für die Sankt Peterskirche in Riga fertig. 1702 bestellte der russische Zar Peter I. drei automatische Turmglockenspiele von Fremys Nachfolger Claes Noorden und Jan Albert de Grave. Zwei davon wurden zwei Jahre später im Erlöser- und im Dreifaltigkeitsturm des Moskauer Kremls installiert.

     Wie der russische Zar, so wurde auch Friedrich III. bei seinen Besuchen in den Niederlanden vom Klang der Hemony-Carillons beeindruckt und – möglichweise nach dem Scheitern des Königsberger Carillonvorhabens – entschloß er sich, ein Carillon in Berlin installieren zu lassen. Die Neugestaltung des baufällig gewordenen Münzturms am Stadtschloß bot eine geeignete Gelegenheit zur Errichtung eines Instruments. Eine Skizze des neuen Münzturms, die Nering vor seinem Tode 1695 anfertigte, zeigt, ähnlich wie bei seinem Entwurf für die Königsberger Evangelisch-Reformierte Parochialkirche, drei Reihen von Glocken an Querbalken im Fenster des obersten Turmgeschosses. 1701 beauftragte der neu gekrönte König Friedrich I. den Bildhauer, Baumeister und 1699 zum Schloßbaudirektor ernannten Andreas Schlüter mit der Neugestaltung des Münzturms und den Leiter der Königlichen Hof- und Artilleriegießerei in Berlin, Johannes Jacobi, mit dem Guß der Glocken.





 

Jacobi kam aus Homburg vor der Höhe und hatte sich in Paris zum Gießer ausbilden lassen, bevor er 1695 nach Berlin übergesiedelt war. Zu den Werken dieses Meisters zählen die Prunksarkophage Friedrichs I. und seiner Gattin Sophie Charlotte, das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten für die Lange Brücke am Berliner Stadtschloß (heute vor dem Schloß Charlottenburg) sowie mehrere Läuteglocken, darunter die etwa neun Tonnen schwere Maxima-Glocke Susanne, die er 1702 für den Magdeburger Dom lieferte. Der Münzturm sollte dreimal so hoch wie das Stadtschloß und mit einem 37-stimmi­gen Carillon ausgestattet werden. Doch woher kam die Idee zu diesem ehrgeizigen Vorhaben?

     Wahrscheinlich diente Amsterdam dem König als Vorbild. Dort hatte die 87 Meter hohe Westerkerk den höchsten Carillonturm der Stadt. Von deren fünf Carillons wurden gerade 1699–1700 die der Oudekerk und des Amsterdamer Rathauses durch Hinzufügung jeweils zweier Glöckchen von 35 auf 37 Stimmen erweitert. Damit wurden sie zu den bis dahin größten Turmglockenspielen der Stadt[4]. Berlin sollte Amsterdam in nichts nachstehen, sein Carillon sollte ebenfalls 37 Glocken haben und gar von einem 98 Meter hohen Turm herabklingen, das als bis dahin weitaus höchsten Gebäude der Stadt und elf Meter höher als der Amsterdamer Westerkerkstoren emporragen sollte.

     Nach dem Berliner Carillonneur Eugen Thiele soll der Kurfürst eine Spielwalze, ein Triebwerk für Uhr und Carillon und einen Spieltisch für das Instrument für 20.000 holländische Gulden bereits gekauft haben[5]. Jacobi fing mit dem Guß der Glocken für das Stadtschloß in Dezember 1700 an. Da sowohl diese Jahreszahl als auch der neue Titel des Monarchen als Rex Borussiae Teil der Inschrift auf dem Bourdon waren, obwohl Friedrich sich erst im folgenden Januar in Königsberg zum König krönte, müßte diese Glocke in Dezember gegossen worden sein, nachdem er den Krönungstraktat am 27. November 1700 unterzeichnet hatte. Die letzten Glocken stellte Jacobi 1704 fertig. Die Tonhöhen der Glocken sind nicht überliefert, aber an Hand der Liste der Gußgewichte von 7. Dezember 1716 und der leichten Rippen, die Jacobi verwendete, war der Bourdon nach der heutigen Stimmung wahrscheinlich eine es1-Glocke. Wie bei den damaligen Carillons üblich, fehlten die beiden ersten Halbtöne, und der Satz endete mit einer f 4-Glocke[6].

     Jacobi hatte vor, die Glocken mit Hilfe eines Musikers zu stimmen. Doch der Umbau des Münzturms scheiterte wegen des sumpfigen Bodens, und Intrigen verhinderten die Einrichtung des Instruments in einem anderen Teil des Schlosses. In den folgenden Jahren wurden zwei Glocken entfernt; wahrscheinlich ließ Friedrich sie als Läute- oder Uhrglocken aufhängen[7].

 

     Nach dem Tod des Königs im Jahre 1713 schenkte sein Nachfolger Friedrich Wilhelm I. das Instrument, das sein Vater für das Stadtschloß in Auftrag gegeben hatte, der Berliner Evangelisch-Reformierten Parochialkirche. Wie die Königsberger Evangelisch-Reformierte Parochialkirche wurde auch die Berliner für die Mitglieder der Reformierten Gemeinde gebaut, damit sie zum ersten Mal unabhängig vom Hof ihr eigenes Gotteshaus hatten, falls dieser seine Glaubensrichtung eines Tages ändern sollte. Die Ansprache zur Grundsteinlegung der Kirche im Jahre 1695 nahm Bezug auf die zu der Zeit im Bau befindliche Königsberger Schwesterkirche, und der erste Entwurf stammte ebenfalls von Johann Arnold Nering, war aber dennoch gänzlich anders als der für die Königsberger Kirche. Nach Nerings plötzlichem Tode mußte sein Nachfolger, Martin Grünberg, den Entwurf aus Kostengründen erheblich vereinfachen. Er behielt die meisten Elemente für den Kircheneingang bei, ersetzte aber den kleinen Turm, den Nering in die Mitte des gewölbten Daches gesetzt hatte, durch einen niedrigeren Turm, der über dem Eingang stand und bis zur Oberkante des Daches reichte. Er wurde dem Gotteshaus hinzugefügt, zwei Jahre nachdem dieses 1703 vom König Friedrich I. eingeweiht worden war. Jedoch, anders als im Falle der Königsberger Parochialkirche, die ihren niedrigen Turm bis zur Beschädigung der Kirche im Zweiten Weltkrieg beibehielt, entschied sich das Presbyterium der Berliner Parochialkirche bereits 1713, deren niedrigen Turm aufstocken zu lassen. Wahrscheinlich veranlaßte dies den neuen König Friedrich Wilhelm I., der nach dem Tode seines Vaters viele von dessen Projekten, um Kosten einzusparen, strich, der Parochialkirche das Carillon zu schenken. Es war eine gute Gelegenheit, ein zusätzliches Geschoß für das Instrument in deren neuen Turmbau einzuplanen. Da er auch schon an der Grundsteinlegung und Einweihung der Kirche teilgenommen hatte, mag er das Geschenk auch als eine gute Gelegenheit betrachtet haben, das Carillonprojekt seines Großvaters für die Königsberger Parochialkirche zu vollenden und seine Unterstützung für die evangelisch-reformierte Gemeinde in Berlin und deren Kirche zu zeigen.

     Der neue Turm wurde 1713 von Jean de Bodt entworfen, der viele von Martin Grünbergs Bauvorhaben unter Einschluß desjenigen der Parochialkirche nach dessen Tod 1706 oder 1707 übernommen hatte. De Bodt wäre zum diesem Zeitpunkt nicht an Schlüters Münzturmentwürfen interessiert gewesen, weil Schlüter wegen des Münzturmfiaskos in Ungnade gefallen war und das Carillon noch nicht der Parochialkirche geschenkt worden war. De Bodt hat Grünbergs Architekturzeichnungen nach dessen Tode übernommen und, obwohl Grünberg nur Entwürfe für einen niedrigen Turm für die Berliner Parochialkirche hinterlassen hatte, dürften er und sein Nachfolger De Bodt Nerings Entwürfe, in dessen Büro Grünberg gearbeitet hatte, gekannt haben. Wahrscheinlich hielt De Bodt es für angebracht, Nerings Entwurf für die Königsberger Parochialkirche als Grundlage für seinen eigenen zu übernehmen, da es sich um die Schwesterkirche handelte und der obere Teil von deren Turm nie gebaut worden war. De Bodts erster Entwurf für den Turm der Berliner Parochialkirche fügte den obersten Teil von Nerings für die Königsberger Parochialkirche – der Abschnitt direkt über dem Glockengeschoß, der aus einer langen, schlanken Obeliske, einer Kugel und einem langen mit einer Sonne gekrönten Stiel bestand – Grünbergs Berliner Parochialkirchturm hinzu und verlegte die Uhr vom mittleren Teil des Königberger Turms zum oberen Abschnitt des Berliner Turms, wo sie den Platz des Rundfensters im Königsberger Entwurf einnahm. Nachdem die Berliner Parochialkirche das Carillon geschenkt erhielt, schien die Verwendung von Nerings Königsberger Turmentwurf als Grundlage für den neuen Turm der Berliner Parochialkirche um so zwingender, als dieser bereits ein Glockengeschoß mit Carillon enthielt. De Bodt überarbeitete seinen ersten Entwurf, fügte ihm diesen Abschnitt hinzu und tilgte den Mittelteil des Königsberger Entwurfs mit der Uhr, da diese bereits zum oberen Abschnitt des Turmes verlegt worden war. Von Nerings Königsberger Entwurf übernahm er auch die Flügel, die links und rechts vom untersten Turmgeschoß herausragten und fertigte sogar ein Holzmodell seines neuen Dessins. Der Architekt Philipp Gerlach, der ebenfalls einen Entwurf für den neuen Turm der Berliner Parochialkirche gemacht hatte, wurde beauftragt, statt seiner eigenen De Bodts Version zu realisieren. Nachdem er die Aufgabe erfolgreich zu Ende gebracht hatte, wurde er als der Architekt mit der entsprechenden Erfahrung 1735 mit dem Bau der zweiten Potsdamer Garnisonkirche beauftragt, deren Turm ebenfalls ein Carillon behauste, und möglicherweise sogar bereits mit dem Bau der ersten, 1722 errichteten Potsdamer Garnisonkirche, deren Turm mit einem automatischen Glockenspiel ausgestattet war.

 

Wie die Berliner und Königsberger Parochialkirchen diente auch die Potsdamer Garnisonkirche als Gotteshaus für die evangelisch-refor­mierte Gemeinde. Der Entwurf für die erste Potsdamer Garnisonkirche stammte möglicherweise von Pierre de Gayette. Er arbeitete zu der Zeit zusammen mit einem Niederländer namens Stegmann, dem damaligen Leiter der Potsdamer Bauprojekte. Der Königlich Preußische Hofrat L. Schneider stellte dem Carillonneur und Organisten der Garnisonkirche Hermann Baltin die im Königlichen Geheimen Staatsarchiv befindlichen Dokumente bezüglich des Potsdamer Carillons zur Verfügung, der sie in einem 1864 herausgegebenen Artikel über das Instrument veröffentlichte. Darin steht daß dem ersten Turmglockenspiel „das Handclavier zum freien Spiel [fehlte]. Die Glocken waren demzufolge auch ohne Klöppel.“[9] Es ist nicht klar, woher Baltin diese Information hatte. Auf der einen Seite gab es immer viele rein automatische Turmglockenspiele. Auf der anderen Seite, obwohl dieses Thema Baltin als Potsdamer Carillonneur sehr am Herzen gelegen haben mag, hatte er das damals bereits vor 133 Jahren verschwundene erste Potsdamer Instrument nie gesehen. Die Dokumente aus dem Königlichen Geheimen Staatsarchiv beziehen sich nur auf das 1735 installierte Carillon und geben fast gar keine Auskunft über das erste Turmglockenspiel, dessen Unterlagen König Friedrich Wilhelm I. hatte einstampfen lassen. Sie berichten darüber, daß der König den Berliner Carillonneur Arnoldus Carsseboom damit beauftragte, das erste Instrument umzubauen und ihm die von dem Hofgießer Johann Paul Meuerer dafür gegossenen fünf großen Bassglocken c1, d1, e1, fis1 und gis1 hinzuzufügen. Als er das Carillon 1735 im Turm der neuen Garnisonkirche installierte, baute er dafür ein „neu Clavier[10]. Jedoch, da das zweite Instrument größer als das erste war, hätte er in jedem Falle einen neuen Spieltisch dafür zimmern müssen. Wie bei dem ersten Carillon für den Berliner Münzturm liefern die Klöppel den entscheidenden Hinweis. Carsseboom stellte mit Datum von 4. November 1734 eine Liste der Gewichte der verschiedenen, für den Bau des neuen Potsdamer Carillons notwendigen Metallteile zusammen. Darin stehen u. a. „Eyserne Hammer, Klöpels, Fehdern, Hammer Stiehle und Schwänze“ mit einem Gesamtgewicht von 987 kg[11]. Er gibt weder die Anzahl der Klöppel – wegen der fünf neuen Glocken wären es mindestens fünf – noch deren Gewicht an. Sie stehen auch nicht in seiner Liste der Spezifikationen und Kosten der für den Bau des neuen Carillon nötigen Materialien vom 27. November 1733.

 

Quellen/Literaturverzeichnis

 

       APK B 47 Glockenspiel, APK B 48 Glockenspiel

Correspondence and APK Carsseboom – Dokumente

aus dem ehemaligen Archiv der Evangelisch-Reformierten Parochialkirche Berlin. Die Originale sind jetzt im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin, das in diesem Artikel zitierte Material stammt aus Mikrofilmkopien im Besitz des Autors. B 47 Glockenspiel Nr. 1, Nr. 3, Nr. 4, Nr. 7, ad Nr. 7 (Jacobi Specification deßen was zu dem neuen Thurm auf der Parochial-Kirche laut Rechnung an Arbeit verfertigen laßen und gelieffert haben 2. Februar 1714), Nr. 10 (Bericht von Frisch und Lüteroth) und Nr. 18, B 48 Nr. 1, 2, ad 4 und ad 10 sowie Carsseboom.

       Hermann Baltin: In Sachen des Glockenspiels auf dem hiesigen Garnisonthurme, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, hg. von L. Schneider, Potsdam 1864.

       Ludwig Bamberg: Die Potsdamer Garnisonkirche. Baugeschichte – Ausstattung – Bedeutung, Berlin 2006.

       Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam, Berlin 1991.

       F. Brose: Der Erzgießer Johann Jacobi, in: Der Bär 1. Jhg. Nr. 5 (1875).

       Christian Hammer, Peter Teicher: Die Parochialkirche zu Berlin, München 2009.

       Georg Fritsch: Die Burgkirche zu Königsberg in Preußen und ihre Beziehungen zu Holland. Ein Beitrag zur Neringforschung, Königsberg 1930.

       Cornelius Gurlitt: Andreas Schlüter, Berlin 1891.

       L. Holthof: Glocken, in: Über Land und Meer, Nr. 28 (10. Juli 1898).

       Heinz Ladendorf: Der Bildhauer und Baumeister Andreas Schlüter, Berlin 1935.

       Heinz Ladendorf: Andreas Schlüter, Berlin 1937.

       André Lehr: De klokkengieters François en Pieter Hemony, Asten 1959.

       André Lehr: Van paardebel tot speelklok. De geschiedenis van de klokgietkunst in de Lage Landen, zweite revidierte Ausgabe, Zaltbommel 1981.

       Max Kühnlein: Die Kirchenglocken von Groß Berlin und seiner Umgebung, Berlin 1905.

       Luc Rombouts: De abdij van ’t park: de wieg van de beiaard, in: Stad met klank. Vijf eeuwen klokken en klokkengieters te Leuven, hg. von Gilbert Huybens und Luc Rombouts, Löwen 1990.

       Hans Siepert: Das Glockenspiel der evangelischen Parochialkirche zu Berlin [unveröffentlichtes Typoskript], Greene 1940.

       Eugen Thiele: Das Glockenspiel der evangelischen Parochialkirche zu Berlin. Gedenkschrift zum zweihundertjährigen Jubiläum des Glockenspiels, Berlin 1915.

       Edward V. Williams: The Bells of Russia. History and Technology, Princeton, 1985.

       Bernard Winsemius: De Zuidertorenbeiaard te Amsterdam, in: Klok en Klepel Nr. 52, hg. von Henry Groen, Barneveld Juni 1994.



[1] Anm. K.B.: Die Königsberger Parochialkirche (später auch Burgkirche genannt) stand südöstlich des Schloßteichs im Stadtteil Löbenicht. Die Kirche brannte beim britischen Luftangriff auf Königsberg am 29. August 1944 vollständig aus, ihre wiederaufbaufähige Ruine wurde von den Sowjets 1969 beseitigt.

[2] Eine kleine evangelisch-reformierte Kirche war zwischen 1681 und 1683 in Memel errichtet worden.

[3] Siehe Bossin, S. 83-84. Dort steht eine Liste der Choräle, die der Gemeindekirchenrat der Parochialkirche den Carillonneur Richard Thiele 1893 anwies, auf die Walze des Carillons zu setzen.

[4] Allerdings waren bereits 1665 zwei Carillons mit jeweils 37 Glocken in der Antwerpener Kathedrale installiert worden. 1662 und 1668 hatten Brüssel bzw. Leiden je ein Carillon mit 38 Stimmen erhalten, 1660 war ein Instrument mit gar 40 Glocken im Stadtturm von Gent montiert worden, und 1695 fügte der Antwerpener Gießer Melchior de Haze dem Hemony-Carillon im Utrechter Dom sieben Glocken hinzu, so daß es gar 42 Stimmen zählte.

[5] Vgl. Thiele, S. 21-22. Thiele gibt nicht an, wann diese Teile des Carillons erworben wurden, so daß sie vielleicht sogar ursprünglich für die Königsberger Parochialkirche gedacht gewesen waren. Wäre es bereits bis 1695 klar geworden, daß die Finanzierung jenes Kirchenbaus schwierig geworden war und der Teil von dessen Turms, der das Carillon aufnehmen sollte, möglicherweise nicht errichtet werden könnte, dann hätte der Kurfürst einen anderen geeigneten Turm für die Behausung des Carillons gesucht und es wäre naheliegend, daß er Nering, der die Königsberger Parochialkirche entworfen hatte, darum gebeten hätte, das Carillon in seinen Entwurf des Berliner Münzturms aufzunehmen. Thieles Behauptung, daß der Kurfürst auch einen Spieltisch gekauft hätte, ist insofern fraglich, als diese damals normalerweise erst als Teil der Montage des Instruments gebaut wurden. Das Inventar der Bestandteile der Turmuhr und des Carillons, die König Friedrich Wilhelm I. der Berliner Parochialkirche stiftete, enthält keinen Spieltisch. In meinem Buch Die Carillons von Berlin und Potsdam, behauptete ich deshalb, daß nur ein automatisches Turmglockenspiel für das Berliner Stadtschloß vorgesehen war. Dies schien auch deshalb plausibel, weil auch die Potsdamer Garnisonkirche 1721 zuerst auch nur ein solches Instrument erhielt. Das Inventar der Bestandteile von Jacobis Carillon, welche die Parochialkirche im Juni 1713 erhielt, enthält zwar 40 Hämmer für die Automatik, aber keine Klöppel, die von einem Spieltisch aus betätigt worden wären, dafür aber 28 „Schwengelkloben“ (vgl. APK B47 Glockenspiel ad Nr. 3). Jedoch war mir das Wort „Schwengel“ als Bezeichnung für Klöppel damals noch nicht bekannt und deren Verbindung mit dem Wort „Kloben“ sowie der damalige Gebrauch des Wortes „Knüppel“ als altdeutsche Variante von Klöppel in den damaligen Unterlagen und die Zahl 28 statt der für das Carillon notwendigen 37 Klöppel hinderten mich auch daran, den Sachverhalt zu erkennen. Es ist mir jedoch seitdem klar geworden, daß Jacobis Instrument doch Klöppel hatte und auch als Carillon von Hand gespielt werden sollte. Die sieben fehlenden Klöppel waren 1713 entweder noch nicht gebaut worden oder verlorengegangen oder, wie zwei der zugehörigen Glocken, während der Lagerung des Carillons entfernt worden, um anderen Zwecken zu dienen.

[6] Der Guß solch kleiner Glocken war eine damals ungewöhnliche Leistung. Bis dahin hatten dies nur die Amsterdamer Gießer Pieter Hemony und der Antwerpener Gießer Melchior de Haze geschafft. Dem Utrechter Carillon fügte De Haze 1695 die sieben Glocken c4 bis fis4 (Angaben in heutigen Tonhöhen) hinzu. Daß Jacobi bei seinem ersten und einzigen Carillon eines goß, das bis zu einer f4-Glocke reichte, ist für die damalige Zeit bemerkenswert.

[7] Vgl. Brose, Brief von Johannes Jacobi an König Friedrich I., S. 41-43.

[8] Friedrich Wilhelm, König in Preußen p. „Nachdem Wir der Parochial-Kirche in Berlin nicht nur das Glockenspiel, sondern auch die dabey befindtliche Große Glocke zum Einläuten in Gnaden geschenket und zugewendet; Alß befehlen Wir Euch hiermit in Gnaden, Euch darnach gehorsamst zu achten und die Vorsehung zu thun, daß sothanes Glocken-Spiel und Große Glocke besagter Parochial-Kirche abgefolget werden solle.

[9] Vgl. Baltin, S. 1.

[10] Vgl. Baltin, S. 3.

[11] Vgl. Baltin, S. 7.