Glockenfestivals, Seminare, Symposien und Tagungen in Rußland 1989 - 2017

Teil II: Jaroslawl, Rostow Weliki, Moskau und Sankt Petersburg, 2015

Dokumentation und Reisebericht

 

Von Jeffrey Bossin

 

Nach dem Glockensymposium in  Sankt Petersburg 1993 hatte ich wenig Kontakt zu meinen Freunden und Kollegen in Rußland. 1999 lud mich Natalija Karowskaja ein, Jury-Mitglied beim zweiten Wettbewerb für russische Glöckner zu sein, das im Rahmen des alljährlichen Verklärungs-Festivals stattfand, und ich nahm die Einladung gerne an, feierte ein Wiedersehen mit meinen russischen Freunden Juri Puchnatschow, Sergei Tossin und Sergei Malzew und lernte viele neue Kollegen kennen[1]. Danach brachen die Kontakte zu Rußland ab. Juri trat als Vorsitzende der Assoziation der Glockenkünste in Rußland zurück. Unter seiner unparteiischen Führung hatten sich zahlreiche Kollegen aus ganz Rußland getroffen und waren bereit zusammenzuarbeiten. Puchnatschow hatte sich bemüht, die unterschiedlichen Mitglieder der Assoziation zusammenzuhalten und Projekte zu realisieren, die auf den verschiedensten Aspekten der russischen Campanologie beruhten. Nachdem er zurücktrat konnte niemand diese Funktion übernehmen, und die Glöckner und Campanologen gingen eigene Wege. Sein Nachfolger Alexander Jareschko aus Saratow stellte seine persönliche Auffassung der wahren Art die russische Läutekunst auszuüben über alle anderen und war deshalb nicht in der Lage, die diversen Interessen und Sichtweisen der vielen über ganz Rußland verstreuten Mitglieder und Zentren des Glockenläutens zu vertreten. Es gab Auseinandersetzungen und Konflikte und die von Puchnatschow mit viel Enthusiasmus gegründete Vereinigung fiel auseinander und löste sich auf als die Mitglieder ihre eigenen Wege gingen. Ihn hatte ich ein letztes Mal auf dem zwölften Kolloquium zur Glockenkunde in Greifenstein zusammen mit seiner moskauer Kollegin Anna Bondarenko Anfang Oktober 2004 ganz kurz gesehen hatte aber danach keinen Kontakt mehr zu ihm. Einige Wochen später hatte er einen Autounfall, und er starb im November 2005[2]. In den folgenden Jahren telephonierte ich gelegentlich mit seiner Witwe Natascha und schrieb Emails an meinen Freund und Kollegen Sergei Tossin, der Campanologe und Professor für Komposition am Konservatorium in Nowosibirsk war und mehrere Bücher über Glocken und Glockengeläute in Rußland verfaßt hatte[3].  Dazu hatte er mir 1993 und 2001 zwei auf russischem Glockgeläute basierende Carillonwerke geschrieben. Aber nach dem zweiten Wettbewerb für russische Glöckner in Jaroslawl hatte ich vorerst keinen Grund und keine Gelegenheit nochmal nach Rußland zu fahren. Natalija Karowskaja war noch aktiv und 2010 übernahm sie die Leitung des Rostower Kreml-Museums und veranstaltete dort das erste internationale Sommerfestival. 2014 wurde im Rahmen des Festivals das 25jährige Jubiläum der Assoziation der Glockenkünste in Rußland gefeiert, der im Mai 1989 in Rostow Weliki gegründet worden war. Mitglieder der Assoziation wurden eingeladen, Vorträge zu halten, die anschließend von Natalija Karowskaja und Sergei Starostenkow in dem Buch Колокола. Историа и современность. Материалы научной конференции (Glocken in Geschichte und Gegenwart. Die Unterlagen der wissenschaftlichen Konferenz) veröffentlicht wurden[4]. Eine große Tafel an der Wand mit mehreren Photographien enthielt Informationen über Puchnatschows Leben, Arbeit und Verdienste, und ein kurzes Portrait von ihm und zwei anderen ebenfalls verstorbenen Mitgliedern, dem ehemaligen Leiter des Kreml-Museums Wjatscheslaw Kim (1938-2009) und dem Glöckner aus Archangelsk Iwan Danilow (1952-1998), erschien in dem von Alla Widenejewa herausgegebenen  Heft 25-летие основания ассоциации колокольного искусства россии в Ростове Великом (25. Jahrestag der Gründung der Assoziation der Glockenkunst in Rußland in Rostow Weliki)[5].

     An einem Sonntagnachmittag Mitte Juni 2015 wartete ein sympathischer junger Mann mit seiner Ehefau auf mich nach meinem Carillonkonzert in Berlin-Tiergarten. Es war Wiktor Karowski, der Sohn von Natalija Karowskaja, der als Architekt in Moskau arbeitete und gerade Urlaub in Berlin machte. Er richtete mir Grüße von seiner Mutter aus und berichtete mir, daß sie ein großes Festival in Rostow Weliki vom 21. bis 23. August veranstalten wurde. Ein Monat später schickte sie mir eine Email mit einer offiziellen Einladung daran teilzunehmen und einen Vortrag zu halten. Die Reise müßte ich selber bezahlen aber die Veranstalter würden die Kosten der Unterbringung und der Verpflegung übernehmen. Ich sagte zu und freute mich sehr auf die Reise und vor allem auf ein Wiedersehen mit meinen russischen Freunden und Kollegen, die ich seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Außer einem kurzem Ausflug nach Rostow während des zweiten Wettbewerbs für russische Glöckner in Jaroslawl 1999 hatte ich die Stadt seit dem Glockenfestival dort vor 26 Jahren auch nicht mehr besucht[6].

     Für die Einreise brauchte ich aber ein Visum. Das russische Generalkonsulat in Dahlem gab es nicht mehr. Man könnte ein Visum bei der russischen Botschaft beantragen, aber dafür müßte man online einen Termin vereinbaren, und der früheste, der mir angeboten wurde, war der Tag, an dem ich meinen Vortrag halten sollte. Also wandte ich mich an das russische Visazentrum. Zuerst mußte ich ein sehr langes Antragsformular online ausfüllen. Zu den vielen detaillierten Angaben gehörten u. a. die Daten und Orte aller Auslandsaufenthalte der letzten zehn Jahre,  die Namen, Adressen und Telephonnummern aller meiner Arbeitgeber (auch vergangene) und meines Hotels in Rostow Weliki und die Ausstellungsdaten aller meiner russischen Einreisevisen, die ich bisher bekommen hatte. Ich mußte auch die Namen, Adressen, Telephonnummern und Geburtsdaten aller Privatpersonen angeben, bei denen ich wohnen würde. Man mußte auch alle zutreffenden Fragen vollständig beantworten, sonst dürften man nicht zur nächsten Frage übergehen. Da es mir unmöglich war, die Ausstellungsdaten meiner früheren Visen zu ermitteln, habe ich das eingetragen, was ungefähr gestimmt haben müßte und hoffte auf das Beste. In der Zwischenzeit schickte mir die Mitarbeiter des Rostower Kremls eine offizielle Einladung per Fax. Sie wurde im Visazentrum überprüft und die Mitarbeiter baten um eine präzisere Formulierung des Zweckes meiner Reise und um eine Einladung mit einer offiziellen Stempel des Kreml-Museums darauf. Ich erhielt eine neue Fassung per Fax und ging damit und mit meinem gerade neu ausgestellten Reisepaß, einem Visaphoto in der passenden Größe und dem Antragsformular zum Visazentrum. Das Büro war immer sehr leer, es waren wenn überhaupt dann höchstens zwei oder drei andere Menschen anwesend, die ein Visum beantragen wollten. Ich mußte also nicht lange warten und reichte alles ein. Die Angaben wurden überprüft, eine mußte korrigiert werden, das kostete fünf Euro. Laut des Antragsformulars wurde klargemacht, daß aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben der Antrag auf ein Einreisevisum abgelehnt werden könnte und daß die russische Grenzbehörde sich das Recht vorbehielt, einem die Einreise zu verweigern, auch wenn man ein gültiges Einreisevisum hatte. Ich äußerte meine Besorgnis über die ungenauen Angaben über die Ausstellungsdaten meiner früheren russischen Visen aber die Mitarbeiterin des Visazentrums meinte, daß das nicht so wichtig wäre. Man muß auch die Art von Visa auswählen, die man beantragen wollte, und ein Touristenvisa paßte nicht zum Zweck meiner Reise. Die Mitarbeiterin nahm Rücksprache mit ihrer Chefin und sagte mir danach, daß ich ein humanitäres Visa beantragen sollte. Sie sagte mir auch, daß ich ein einmaliges Einreisevisa oder eins, das drei Jahre lang gültig wäre beantragen könnte. Da das Visagebühr für beide Varianten gleich war, entschied ich mich für die letztere. Die Gebühren betrugen 150 Euro für das Visa, 27 Euro Bearbeitungsgebühr und fünf Euro für die Korrektur. Wenn man einen Termin bei der Botschaft lange genug im Voraus vereinbart, kann man sich die Bearbeitungsgebühr ersparen. Da jedoch die ganze Prozedur einfacher und zügiger bei dem Visazentrem läuft, würde ich jedem empfehlen, den Antrag dort zu stellen. Europäer müssen jedoch zusätzlich dazu eine Reisekrankenversicherung nachweisen oder im Visazentrum gegen eine weitere Gebühr abschließen; das blieb mir als Amerikaner seltsamerweise erspart. Ich gab meinen Paß ab und holte ihn mit dem eingeklebten Visa zwei Wochen später ab.

     Am 19. August flog ich mit Air Berlin nach Moskau und landeten auf dem neuen Flughafen Domodedowo südlich der Stadt. Nachdem ich mich durch die Schlangen vor den Einreiseschaltern durchgekämpft hatte, traf mich Natascha Puchnatschewa in der Eingangshalle. Wir stiegen in ein Schuttlebus vor dem Flughafengebäude ein und fuhren in die Stadt. Auf dem nach Hauseweg gingen wir zu einem Reisebüro, wo ich die Bahnfahrkarten für die Hin- und Rückfahrt nach Rostow Weliki kaufte. Obwohl sie zweieinhalb Stunden ohne Zwischenhalt dauert, kosteten sie insgesamt nur 20 Euro. Wie in Deutschland muß man nicht nur das Ziel sondern auch Tag und Uhrzeit der Fahrt angeben. Man muß seinen Paß vorlegen und bekommt zuggebundene Fahrscheine mit einem reservierten Sitzplatz. Danach fragte mich Natascha, ob ich zu MacDonalds gehen wollte aber ich sagte ich wollte unbedingt russische Kost und so gingen wir zu einer russischen Cafeteria, wo man einfache aber schmackhafte Speisen bekam. Dann tauschte ich Geld in einer Wechselstube, wo ich 70 Rubel für einen Euro erhielt. Schließlich kauften wir Lebensmittel in einem Supermarkt. Im Laufe dieser Tätigkeiten wurde mir klar, wie stark Rußland während der letzten sechzehn Jahre sich verändert hatte. Moskau war inzwischen eine durch und durch kapitalistische Stadt geworden, die sich äußerlich kaum von New York, Amsterdam, Berlin, London und Paris unterscheidet. Die Ladas sind verschwunden, die Moskauer fahren jetzt amerikanische, westeuropäische und ostasiatische Autos. Das Angebot in den Läden und Supermärkten ist vielfältig und reichlich, und neben den vielen russischen Gütern gibt es auch mehrere der beliebstesten westlichen Produkte zu kaufen. Es werden auch dreißig Sorten Frühstücksflocken und Eiskrem und fünzig Sorten Käse und Wurst angeboten mit dem einzigen Unterschied, daß Angaben auf den Packungen auf Russisch geschrieben werden. Der Supermarkt hat sogar Spinde für die Kunden, die ihre Mitbringsel darin verstauen wollen, während sie einkaufen.

     Am nächsten Tag brachte mich Natascha zum Bahnhof. Der Zug fuhr um 14.34 ab, wir gingen bereits um 13.30 los. Natascha sagte mir, das wäre für sie ungewohnt, sie würde ihre Züge sonst immer nur knapp vor der Abfahrt erreichen. Wir nahmen die U-Bahn. Die Zuggeräusche waren ohrenbetäubend, die meisten Passagiere saßen oder standen regungslos mit einem ernsten und ruhigen Gesichtsausdruck und wenn sie überhaupt redeten, dann nur kurz und leise. Viele schauten auf ihre Handys. Die Russen sind inzwischen genauso gut mit Computern, Smartphones und Tablets ausgestattet wie die übrigen Europäer. Wir mußten umsteigen, durch lange Gänge laufen und mit sehr langen und steilen Rolltreppen fahren. Als wir endlich den Bahnhof erreichten, merkte Natascha, daß anstatt am Jaroslawler Bahnhof zu sein, wir dort angekommen waren, wo die Busse zum Flughafen abfahren. Jetzt liefen wir den ganzen Weg zurück und mußten nochmal mit der U-Bahn fahren. Ich schaute auf die Uhr und dachte, daß ich den Zug nie rechtzeitig erreichen würde! Aber zum Glück hatte ich die Abfahrtszeiten meiner beiden Züge verwechselt, der Zug fuhr erst um 14.45 ab und so hatten wir noch elf Minuten mehr Zeit, als wird dachten. Ihn erreichte ich knapp eine Minute vor der Abfahrt. Natascha holte mich gerade rechtzeitig ein und verabschiedete sich mit den Worten „Ich sagte Dir Jeffrey, bei mir ist es immer auf den letzten Drücker!“ Der Zug war modern und komfortabel mit bequemen Sitzplätzen. Es gab sogar Monitore wie in den Passagierflugzeugen, wo man über Kopfhörer Sendungen anschauen und Musik hören konnte.

     In Rostow Weliki holten mich zwei junge Mitarbeiter des Kreml-Museums, der Hauptglöckner und Leiter der Campanologischen Abteilung des Rostower Kreml-Museums Wassili Sadownikow und der wissenschaftliche Sekretär des Museums Sergei Archirejew mit einem Van am Bahnhof ab und brachten mich zum Kreml. Leider konnten die beiden genausowenig Englisch wie ich Russisch aber später benutzten sie ein Smartphone mit einem Übersetzungsapp und es wurde mir endlich klar, warum ich solch einen Apparat brauchte. Die Kremlgebäude und -mauer waren strahlend weiß, weil die Verwaltung dabei war, umfangreiche Renovierungsarbeiten durchzuführen. Im Büro des Kremls empfing mich Natalija Karowskaja herzlich und dort traf ich auch Sergei Starowstenkow, den ich zuletzt 1993 in Sankt Petersburg gesehen hatte. Natalija gab mir die Broschüre, die im vorigen Jahr anläßlich des 25. Jahrestages der Gründung des Assoziation der Glockenkünste in Rußland in Rostow Weliki herausgegeben wurde. Danach brachte ihre Assistentin Alena Kizim mich zu dem Hotel дом на погребвкх „Haus auf den Kellern“, das einst die Residenz der Rostower Geistlichen gewesen war. Dort stellte man mir die ehemalige Wohnung des Metropoliten zu Verfügung. Die zwei große Zimmer waren spärlich aber komfortabel eingerichtet mit Möbeln und bunten Vorhängen im russischen Stil. Das kleine Bad hatte eine Dusche, Toilette und einen Waschbecken. Ein kleiner Kühlschrank stand in der Ecke des Wohnzimmers und ein großer Blumenstrauß, eine Tafel russischer Schokolade, eine große Obstschale mit Äpfeln und Birnen und eine Flasche russischer Sekt standen auf dem Wohnzimmertisch als Begrüßungsgeschenk zusammen mit einem gedruckten Faltblatt mit der Aufschrift The Program of the Visit of Jeffrey Bossin, a Berlin Carilloner (sic), das die verschiedenen Programmpunkte meines Besuches enthielt. Nach einer Stunde wurde ich abgeholt und zum Abendessen im Restaraunt Russischer Bauernhof neben dem Kreml gebracht. Im hinteren Ausgang der Anlage gingen wir an zwei alte Bettlerinnen vorbei. Ansonsten habe ich ab 2015 fast keine arme Menschen während meiner Reisen durch Rußland gesehen. Das Restaraunt war mit Tischen und Stühlen aus dickem dunkelem Holz ausgestattet. Die Kellnerinnen brachten mir mein Essen ohne daß ich sie dazu auffordern, es bestellen oder bezahlen mußte – Tischlein deck Dich wie von Zauberhand. Die Mahlzeiten fingen immer mit irgendeiner Art einfacher Suppe an, gefolgt von einem Salat, z.B. Krautsalat, einem Stück Fleisch mit Kartoffeln und irgendeiner Nachspeise. Es waren einfache aber schmackhafte Gerichte in bescheidenen aber ausreichenden Portionen. Mit Ausnahme von drei meiner älteren russischen Kollegen sah ich auch keine dicken Menschen in Rußland. Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und verbrachten den Abend mit Lesen und Russisch

lernen.

     Der nächste Tag, Freitag, 21. August, markierte den Beginn des dreitägigen Festivals mit dem Namen Ростовское действо (Rostower Spektakel), das seit 2010 alljährlich veranstaltet worden war. Neben Konzerten aller Art, Ausstellungen und Führungen durch den Kreml wurden auch Kochkurse und Kurse in Goldstickerei, Ikonenmalerei und Schnitzen angeboten. An dem Morgen traf ich mich mit Natascha Jesina am Eingang der Kremlanlage, die mir als Dolmetscherin bei meinem ersten Aufenthalt in Rostow 1989 zur Seite gestanden hatte. Wir begrüßten einander herzlich, bestiegen eine große schwarze Limousine mit Chaffeur, holten Sergei Starowstenkow von seinem Hotel ab und führen nach Jaroslawl, begleitet von einer schönen jungen Dame, die mich bei diesem Aufenthalt als Dolmetscherin begleitete. Zuerst besuchten wir den Kreml oder Erlöser-Verklärungs-Kloster, wo 1992 und 1999 die ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner stattgefunden waren. Wie die vielen alten Kirchen der Stadt war die Anlage restauriert worden, das Mauerwerk neu gestrichen und die Zwiebeltürme vergoldet und mit goldenen Kreuzen ausgestattet. Als erstes wurde uns die Bärin Mascha in ihrem Käfig gezeigt, die als Jungtier im Wald gefunden wurde. Seit 1778 dient ein aufrechtstehender Bär, der eine goldene Streitaxt trägt, als Wappentier von Jaroslawl, weil der Gründer der Stadt, der Kiewer Fürst Jaroslaw der Weise, eine von heidnischen Aufsäßigen auf ihn losgelassene Bärin mit einer Streitaxt getötet haben soll. Danach liefen wir an einem neuen Denkmal zu Ehren des 1578 geborenen Fürsten Dmitri Poscharski vorbei, das ihn als Standfigur neben Soldaten und Bauern überwacht von der heiligen Maria mit dem Jesukind zeigt. Der Fürst war mit seinen Truppen von Jaroslawl nach Moskau marschiert, wo er die polnischen Besatzungstruppen am 25. August 1612 aus der Stadt vertrieb. Danach schauten wir uns die 1831 erbaute Kirche-der-Jaroslawler-Wundertäter an, dessen Innenwände mit blassen aber farbprächtigen und teils unvollständigen großen biblischen Figuren bemalt sind. Wir erklommen den danebenstehenden großen Glockenturm und ich sah, daß der große hölzerne Spieltisch mit den Holzhebeln zur Bedienung der tiefsten Glocken inzwischen entfernt worden war[7]. Es fiel mir auf, daß mindestens sieben Glocken des neunzehnstimmigen Swons, darunter zwei aus der Olowjanischnikow Gießerei in Jaroslawl, eine von Assverus Koster in Amsterdam, und eine von dem Gießer Andrei Kurbski aus Pskow, aus der Zeit vor der russischen Revolution stammten, und das mindestens vier weitere zu dem Kurant oder automatischen Glockenspiel des Turmes gehörten. Ich stieß bei meinen weiteren Reisen durch Rußland immer wieder auf solche alte Glocken, und mit der Zeit bemerkte ich, daß viele Glocken die in der campanologischen Literatur stets berichtete Zerstörung von bis zu 99% der Glocken in Rußland während der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhundertsentgangen waren. Obwohl die Vernichtung sehr weiträumig ablief und sowohl von den Sowjets durchgeführt als auch von armen Bauern unterstützt wurde, die ihre Glocken aus finanzieller Not verkauften, verlief sie nicht gleichmäßig noch war sie nicht allumfassend. Und genau das entspricht den Gegebenheiten eines sehr großen Landes wie Rußland, wo die Lage und Einstellung der Handelnden von Ort zu Ort variierten. Viele Großglocken wurden zerstört, weil sie Prestigobjekte und eng verbunden mit der Zarenfamilie und der Kirche waren und ihre Vernichtung auf offener Strasse einen großen Eindruck auf den schaulustigen Bürgern hinterließ. Aber viele andere Glocken, große und kleine, blieben in den Kirchtürmen und wurden verschont oder konnten von Gläubigen heruntergenommen und versteckt werden. Die Beschlagnahmung der Glocken lief von Ort zu Ort anders ab und es war einfach unmöglich, bei der gewaltigen Anzahl von Glocken verteilt über einem so großen Reich, sie alle zu zerstören, zumal an einigen Orten der Wille dazu fehlte.

    Der Swon wurde nicht gespielt, als wir den Turm besichtigten, dafür bekamen wir eine schöne Aussicht auf die Stadt, u. a. auf die prächtig vergoldeten Zwiebeltürme der blütenweißen Mariä-Entschlafens-Kathedrale, die nahgelegene Erzengel-Michael-Kirche und die Epiphanie-Kirche mit ihren rotbraunen bzw. aus rotem Backstein gebauten Außenwänden und dunkelgrünen Zwiebeltürmen und in der Ferne die weißen Wände und dunkelgrünen Zwiebeltürmen der Kirche-des-Heilands-der-Stadt und der Kirche-des-Propheten-Elias. Die altrussischen Kirchen haben normalerweise eine kastenförmige Haupthalle mit fünf Zwiebeltürmen auf dem Dach: einem großen in der Mitte und einem kleinen an jeder der vier Ecken des Daches, die Christus und die vier Evangelisten symbolisieren.  Danach liefen wir durch die Stadt zu der Kirche-des-Propheten-Elias am Sowjetskaja Platz. Sie soll die erste Kirche der Stadt gewesen sein, ursprünglich aus Holz bestanden haben und zwischen 1647 und 1650 durch den jetzigen Steinbau ersetzt worden sein. Die Kirche ist trotz aller Wirren der Geschichte – 1930 hatten die Sowjets sie beinah abreißen lassen – erhalten geblieben. Der linke der zwei Türme, die den Eingang flankieren, hat eine Glockenkammer, worin zwei Glocken zusehen waren. Im Inneren der Kirche schauten

 wir uns die prächtigen Wandmalereien aus dem 17. Jahrhundert mit biblischen Figuren und die Ikonenwand mit den zahlreichen verzierten und vergoldeten Bilderrahmen. Dann gingen wir zum Wolga Fluß vorbei an einem stattlichen ocherfarbigen Gebäude, das früher als die Residenz der kaiserlichen Familie diente und nach der Enteignung 1919 in ein Museum für bildende Kunst umgewandelt wurde. Vom Ufer aus blickten wir auf die Brücke über die Wolga, die einst als einzige Verbindung beider Seiten der Stadt diente. Wir hielten vor dem Restaraunt Sobranije (Treffen), wo draußen eine Hochzeitsgesellschaft gerade feierte; mir wurde gesagt, daß man in Rußland am liebsten Freitags heiratet, wahrscheinlich um das Wochenende als kurze Flitterwoche geniessen zu können, falls man Montag doch wieder arbeiten müßte. Wir kehrten in das Restaraunt ein und nahmen die landsübliche schmackhafte Mahlzeit aus Suppe, Salat, Fleisch, Kartoffeln und Nachtisch zu uns. Danach führen wir mit der schwarzen Limousine nach Rostow Weliki zurück.Dort versammelten sich die Campanologen und Glöckner im Weißen Saal des Kremls um 15 Uhr, um Vorträge zu halten. Sie drehten sich um die Art und Weise wie man Glocken am besten

untersucht, erhält und ausstellt. Neben anderen sprachen Alexander Dawydow aus Archangelsk, Sergei Starostenkow aus Sankt Petersburg und Sergei Malzew aus Rostow Weliki. Leider gab es kein gedrucktes Programm mit den Namen der Vortragenden und den Titeln der Vorträge und sie wurden auf Russisch gehalten. Ich referierte auf Englisch über die Wartungsarbeiten an dem Carillon in Berlin-Tiergarten und die Carillonneurin Alexandra Kapinos aus Sankt Petersburg sprach über die Rundreise, die sie und ihre Kollegen unter der Führung des belgischen Carillonneurs Jo Haazen durch Belgien und die südlichen Niederlanden 2014 unternahmen hatten. Dort hatten sie die großen Instrumente von Antwerpen, Brügge, Dordrecht und Mechelen besichtigt und bespielten. Haazen ist der ehemalige Leiter der Königlichen Carillonschule „Jef Denyn“ in Mecheln und initiierte und leitete zwei Projekte, die die Installation von zwei neuen Carillons in Sankt Petersburg zum Ziel hatten[8]. Frau Kapinos hatte meinen Artikel über das Carillon gelesen, der in dem Band Музыка колоколов (Glockenmusik, Sankt Petersburg 1999) erschienen war[9]. Sie fragte mich, ob ich gerne Sankt Petersburg besuchen möchte und ich sagte sofort zu. Nach dem letzten Vortrag gingen wir um 18 Uhr zum Kräutergarten am südöstlichen Rande der Kremlanlage. Dort gibt es ein Pavillon aus Holz mit Bänken und Tischen, die mit einem Buffet aus russischen Salaten, Broten, verschiedenen Käse- und Wurstsorten, gegrillten Wursten, usw. bedeckt waren. Zum Trinken gab es Bier, Wein und natürlich Wodka. Zu den Gästen zählten der Leiter der Glockengießerei Vera in Woronesch, Waleri Anisimow, mit seiner Frau Vera sowie der niederländische Leiter der Amsterdamer Museen Björn Stenvers, der von der russischen Regierung seit einigen Jahren beauftragt wurde bei der Restaurierung nationaler Denkmäler & Anlagen wie der Rostower Kreml mitzuwirken, und seine hübsche Ehefrau Tamara Hoekwater, die als professionelle Sängerin auftritt. Nachdem wir reichlich gegessen hatten, gaben die Russen eine Anzahl ihrer Lieblingslieder zum Besten. Danach verabschiedeten wir uns und ich zog mich in mein Quartier zurück, wo ich wieder versuchte etwas Russisch zu lernen.

     Da man den folgenden Vormittag frei hatte, besuchte ich eine Ausstellung mit zeitgenössischen russischen und französischen Gemälden in der Bildergalerie der Abteilung für altrussische Kunst. Stilistisch machten die Werke den Eindruck, als wenn sie nicht erst in den letzten Jahren sondern bereits vor einem Jahrhundert entstanden wären. Als Besonderheit gab es ein kubistisches Bild mit dem Titel Samowar, das der russische Maler Kasimir Malewitsch um 1913 geschaffen hatte. In den Jahren nach der Oktoberrevolution kamen viele Maler aus Moskau nach Rostow, um dort in Ruhe zu arbeiten. 1922 schenkten sie dem Kreml aus Dankbarkeit über vierzig Bilder. Nachdem Stalin an die Macht kam, mußten diese Malereien im Keller versteckt werden. Allerdings verschwanden mehrere davon im Laufe der Jahre. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurden die übriggebliebenen aus ihrem Versteck hervorgeholt und ausgestellt (Leider hatte ich bisher nicht die Gelegenheit, diese Bilder zu betrachten). Um 11 Uhr bestieg ich den Glockenturm der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale (Uspenski-Kathedrale). Statt dem üblichen runden oder quadratischen hohen Bau zu sein, ist er ein langgestrecktes Gebäude, eine sogenannte Glockenwand. Elf der fünfzehn Glocken hängen in einer Reihe, die sich über die gesamte Länge des obersten Teils erstreckt, die übrigen vier sind in einer zweiten Reihe auf einem Balken, der in einem 90 Grad Winkel dazu steht. Um 12 Uhr zeigten die Rostower Glöckner Dmitri Smirnow und Sergei Malzew den anderen Glöcknern und Campanologen das große Instrument im Turm und spielten einige der traditionellen Rostower Geläute[10]. Das Gesamtgewicht der Glocken beträgt 63,7 Tonnen. Wie bei einem Swon üblich sind die Glocken in drei Gruppen eingeteilt: die Blagowestniky, Podswonny und Saswonny. Die Blagowestniky sind die größten, die Podswonny die mittelgroßen und die Saswonny die kleinsten Glocken eines Swons. Bei einem Geläut werden die Blagowestniky oder Künder-Glocken entsprechend ihres mächtigen Klanges und ihrer langen Nachhallzeit in regelmäßigen aber größeren Abständen angeschlagen. Ein kleinerer Swon mit bis zu acht Glocken hat gewöhnlich nur eine solche Glocke, ein größeres Instrument kann mehrere besitzen. Der Swon der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale von Rostow Weliki hat vier Blagowestniky: Syssoi, Polijeleiny oder Psalm-Glocke, Lebed oder Schwan-Glocke und Golodar oder Hunger-Glocke. Die größte davon wurde nach dem Metropoliten Syssojewitsch genannt. Der Klöppelseil einer Blagowestniky ist normalerweise mit einem Pedal verbunden, worauf der Glöckner tritt, um den Klöppel gegen die Glockewand zu ziehen. Die schweren Klöppel der ganz großen Glocken wie Syssoi und Polijeleiny – der Klöppel der zuerst genannten wiegt immerhin eine Tonne - müssen jedoch von einem oder manchmal gar von mehreren Männern hin- und hergezogen werden. Die Saswonny oder Anfangsglocken werden nach ihrer Funktion benannt, weil man manchmal die ersten Töne eines Geläutes darauf spielen. Beim Zusammenspiel aller Glocken werden sie am häufigsten angeschlagen und benutzt, um schnelle Tonfolgen auf drei oder vier Glöckchen vorzutragen. Der Swon der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale von Rostow Weliki hat drei solche Saswonny. Der Name Podswonny besagt, daß die Schlagtöne dieser Glocken tiefer als die der Saswonny sind. Diese mittelgroßen Glocken bilden das Herzstück eines Swons, worauf die Hauptmotive eines Geläutes im mittlerem Tempo gespielt werden[11]. Die viertgrößte Glocke trägt den Namen Golodar oder Hunger-Glocke, weil sie während der Fastenzeit zur Frühmesse und Mittagsmesse sowie zum großen Abendmahl und zur kleinen Abendvesper geläutet wurde. Die fünfgrößte Glocke wird Baran oder Hammel-Glocke benannt und wurde zur hohen Fastenzeit als Uhrenglocke jeweils vor den vollen Stunden, vor der dritten dreimal, vor der sechsten sechsmal und vor der neunten neunmal geläutet. Die kleinste Glocke, Saswonny 3, hieß früher Jassak und hing ursprünglich an der Ostwand der Mariä-Himmelfahrts-Kirche am Fenster gegenüber des Opferaltars. Sie diente als Melde-Glocke und zeigte an, wenn man mit dem Läuten beginnen oder aufhören sollte[12]. Um 13 Uhr gab es ein Konzert mit dem Männerchor der Wologda Philharmonie, derLieder der Fiwaida des Nordens darbot. Dieses Gebiet umfaßt die Gegend um Wologda und Belosersk. Dessen Namen wurde 1855 von dem Schriftsteller Andrei Murawjow in seinem Buch  Русская фиваида на Севере (Der russische Thebaid im Norden) geprägt, als er das russische Gebiet mit dem gleichnamigen nordägyptischen verglich. Es erklangen alt russische polyphonische Kirchengesänge, dargeboten von Männern in schwarzen Gewändern. Sie sangen in der Kirche-des-Erlösers-auf-Seni, dessen gesamte Innenwände mit bunten Bildern, u. a. von Szenen des Jüngsten Gerichts, bemalt sind.

     Nach dem Mittagessen hörte ich mir die Glockenkonzerte an, die um 15 Uhr auf den beiden Swons der kleinen Glockentürmen dargeboten wurden, die auf den Kremlmauern neben der Kirche-der-Auferstehung und der Kirche-des-Heiligen-Johannes einander schräggegenüber stehen. Während des Festivals vom gab es solche Bespielungen von Freitag bis Sonntag um 12 Uhr, an den ersten beiden Tagen um 15 Uhr und am Sonntag um 14.45 sowie am Freitag um 16.45, Samstag um 17 Uhr und Sonntag um 16 Uhr. Dargeboten wurden sie von Alexander Fedorow aus Jaroslawl, Wiktor Karowski, Juri Kuschnirenko, Alexei Pugatschew und Nikolai Samarin aus Moskau, Wassili Sadownikow aus Rostow Weliki, Anton und Julia Dawidenko aus Sergijew Possad und Juri Korenman aus Witebsk, Weißrußland. Beide dieser Swons bestehen nur aus mittelgroßen und kleineren  Glocken. Das erste der beiden Instrumenteumfaßt zehn aus den 17. bis 19. Jahrhundert, das zweite neun aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Wie bei den meisten Swons hängen die Glocken an Holzbalken, die im obersten Teil der Fensteröffnungen montiert wurden. Die Klöppelseilen der Saswonny, der kleinsten Stimmen, hängen frei herab und der Glöckner greift sie mit der rechten Hand und zieht die Klöppel gegen die Schlagringe der Glocken durch geschickte Drehbewegungen seines Handgelenks. Die Klöppelseile der Podswonny, der größeren Glocken, sind am oberen Ende eines Pfosten befestigt und der Glöckner bewegt die Klöppel, indem er die Seile mit seiner linken Hand und seinem Unterarm herunterdruckt. Der Klöppelseil der Blagowestniky, der größten Glocke, ist an einem Pedal festgebunden, das der Glöckner mit seinem Fuß niedertritt. Die Spieler der beiden Instrumente wechselten sich miteinander ab, sodaß das Geläute zwischen den beiden Türmchen hin- und herwechselte. Sie improvisierten eine Reihe Prasdnitschny Swons, sogenannter festlichen Geläute an allen drei Tagen des Festivals um 12.30, am Freitag, 21. August um 13.30 und an Samstag und Sonntag um 14 Uhr und am Samstag nochmal um 15.30 vorgeführt. Auf der Südseite des Hofes gab es die Stände mit Büchern, Souvenirs und aller Art heimischer kulinarischer Spezialitäten. Man konnte sich auch historische Kostüme ausleihen und sich als altrussischer Fürst mit Pelzmütze und einem farbigen Gewand reicht verziert mit goldenen Stickereien, Kunstperlen und Straßsteinen verkleiden. An diesem heißen Tag mit strahlend blauem Himmel ging ich zu einem kleinen Restaraunt neben dem Kreml und kaufte mir ein Eis. Davor gab es eine kleine provisorische Bühne ausgerüstet mit Mikrophonen, Verstärker und Lautsprechern, wo ein junges Pärchen in russischer Tracht Lieder sangen. Es folgte ein Strassenumzug, der paradoxerweise von Väterchen Frost geführt wurde. Ihm folgten weitere bunte Gestalten, u. a. Menschen bekleidet als Hochadelige, alte Krieger und hübsche junge Bauernmädchen mit großen Blumenkränzen auf dem Kopf. Danach gab es eine weitere musikalische Darbietung auf der Bühne, diesmal geboten von fünf älteren Männern mit dunkelen Hosen und farbigen traditionellen russischen Oberhemden. Sie sangen beliebte russische Lieder und begleiteten sich mit Akkordeons und Balalaikas. Um 17 Uhr wurde wieder auf den beiden Swons in den kleinen Glockentürmen gespielt.

     Um 19 Uhr speiste ich im Festsaal des Restaraunts Russischer Bauernhof. Dort gab es einen langen Tisch und eine Bar mit einer großen Auswahl an Bier- und Weinsorten und Spirituosen aller Art. Der Oberteil der Wände waren passenderweise mit einem Glockenfries dekoriert. Um 20 Uhr begann das Galakonzert des Festivals, das auf einer großen Freiluftbühne auf der Westseite des Innenhofs des Kremls stattfand. Der Abend stand ganz im Zeichen der russischen Kultur, die in den letzten Jahrzehnten bei den Veranstaltungen des Landes im Vordergrund stand. Das Orchester der Neuen Oper in Moskau[13], geleitet von Dmitri Wolossnikow, bot ein Programm mit symphonischen Werken russischer Komponisten dar.  Neben der Krönungsszene aus der Oper Boris Godunow und dem Stück Bydlo aus den Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky und Bearbeitungen von Liedern von Glinka und Rimsky-Korsakow wurde die Vokalise von Rachmaninow gespielt. Die Melodie des letzteren Stückes wurde streckenweise von einem rustikal bekleideten Musiker vorgetragen, der sie auf einer Art russischer Bauernflöte spielte. Ein siebzehnstimmiger gemischter Chor in altrussischer Tracht sang die Bearbeitung eines fröhlichen Osterliedes mit dem Titel Христос воскрес сыне Боже (Christus, der Sohn Gottes ist auferstanden)[14]. Tschaikowskis Overtüre 1812 bildete den Höhepunkt des Abends. Das orthodoxe Troparion vom Heiligen Kreuz (Gott, bewahre dein Volk), das zu Beginn des Werkes an die nach der Kriegserklärung abgehaltenen russisch-orthodoxen Gottesdienste erinnern sollte, wurde von demselben in altrussischer Tracht bekleideten Chor gesungen. Die Aufführung in dem jahrhundertealten Kreml mit einem russischen Chor und Orchester und dem russischen Volk als Zuhörer verliehen diesem Werk eine ungewohnte Aktualität, und es war auf einmal möglich, seine wahre Bedeutung zu begreifen und nachzuempfinden. Der verweifelte Kampf des russischen Volkes gegen Napoleon und die französische Armee, die seinen Ausdruck in der Gegenüberstellung des russischen Volkstanzthemas U worot, worot und der Marseillaise, die Wiederkehr des Anfangschorals mit Glockengeläute - dafür benutzte der Dirigent die großen Glocken des Kremls - und der Abschluß mit der Zarenhymne berührten das Publikum zutiefst. Man konnte spüren, wie alle Anwesenden den glorreichen Sieg des russischen Volkes über Napoleon feierten. Als Zugabe gab der  Chor das fröhliche Osterlied Christus, der Sohn Gottes ist auferstanden nochmal zum Besten.

     Nach dem sonntäglichen Frühstück ging ich zum Ufer des Nerosees, der an den Rostower Kreml grenzt. Dort bestiegen die Teilnehmer der campanologischen Konferenz ein kleineres überdachtes Flachboot mit Kunststoffenstern, die ringsherum eine gute Aussicht boten.


 



[1] Ausführlicher Bericht darüber in Jeffrey Bossin, Festtagsgeläute für den heiligen Fürsten Alexander Newski: Die ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner 1992 und 1999. Dokumentation und Reisebericht. In: JbGk 21/22 (2011-2012), S. 367-389.

[2] Vgl. Jeffrey Bossin und Konrad Bund, In Memoriam. Prof. Dr. Juri Puchnatschow (1941-2005). In: JbGk 17/18 (2005-2006), S. 592-594.

[3] Vgl. Jeffrey Bossin, Campanologische Neuerscheinungen aus Rußland. Ein Überblick über einige neue Bücher, CDs und DVDs der letzten achtzehn Jahre. In: JbGk 27/28 (2015-2016), S. 509 und JbGk 29/30 (2017-18), S. 507-512.

[4] Vgl. Bossin: Campanologische Neuerscheinungen aus Rußland. Ein Überblick über einige neue Bücher, CDs und DVDs der letzten achtzehn Jahre. In: JbGk 27/28 (2015-2016), S. 508-509.

[5] Vgl. Bossin (wie Anm. 4), S. 508.

[6] Vgl. Jeffrey Bossin, Glockenfestivals, Seminare, Symposien und Tagungen in Rußland 1989 - 2015 Teil I: Rostow Weliki, Saratow, Archangelsk und Sankt Petersburg 1989 – 1993. Dokumentation und Reisebericht. In: JbGk 27/28 (2015-2016), S. 536-560.

[7] Das Christ-Verklärungs-Kloster in Jaroslawl hat zwei Glockentürme mit jeweils einem Swon. Einige Photos von den Glocken und Angaben dazu befinden sich in Jeffrey Bossin, Festtagsgeläute für den heiligen Fürsten Alexander Newski: Die ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner 1992 und 1999. Dokumentation und Reisebericht. In: JbGk 21/22 (2011-2012), S. 367-369. Weitere Photos sind im Anhang dieses Artikels.

[8] Vgl. Jeffrey Bossin, Die vier Carillons von Sankt Petersburg. In: JbGk 27/28 (2016/17), S. 237-250.

[9] Vgl. Jeffrey Bossin, Campanologische Neuerscheinungen aus Rußland. Ein Überblick über einige neue Bücher, Kataloge, Zeitschriften, CDs und DVDs 1997-2017. In: JbGk 29/30 (2017-2018), S. 391-396.

[10] Photos von der Glockenwand und den Glocken und Angaben dazu befinden sich im Anhang dieses Artikels.

[11] Siehe Olesja Rostowskaja, O R Rus Peal in Carillon Comp, YouTube Video https://yadi.sk/i/qS_4v9T73TUxaW

[12] Siehe Aristarch Israilew, Ростовские колокола и звоны (Rostower Glocken und Geläute), Sankt Petersburg 1884, Übersetzt von Klaus Meister, o. O. 1994.

[13] Die Neue Oper in Moskau wurde 1991 von dem russischen Dirigenten Jewgeni Kolobow mit Unterstützung des damaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow gegründet. Kolobow war Chefdirigent und künstlerischer Leiter bis zu seinem Tod 2003. Er war auch Jury-Mitglied der beiden Wettbewerbe für russische Glöckner in Jaroslawl 1992 und 1999, wo ich mit ihm zusammenarbeitete.

[14] www.youtube.com/watch?v=hYSGuQosRJ8