Glockenfestivals, Seminare,
Symposien und Tagungen in Rußland 1989 - 2017
Teil II: Jaroslawl, Rostow Weliki,
Moskau und Sankt
Petersburg, 2015
Dokumentation
und Reisebericht
Von Jeffrey Bossin
Nach dem
Glockensymposium in Sankt
Petersburg 1993 hatte ich wenig Kontakt
zu meinen Freunden und Kollegen in Rußland. 1999 lud mich Natalija Karowskaja
ein, Jury-Mitglied beim
zweiten Wettbewerb für russische Glöckner zu sein, das im
Rahmen des
alljährlichen Verklärungs-Festivals stattfand, und ich nahm
die Einladung gerne
an, feierte ein Wiedersehen mit meinen russischen Freunden Juri Puchnatschow, Sergei Tossin und Sergei Malzew und
lernte viele neue
Kollegen kennen[1]. Danach brachen die Kontakte zu
Rußland ab. Juri trat als
Vorsitzende der Assoziation der Glockenkünste in Rußland
zurück. Unter seiner unparteiischen
Führung hatten
sich zahlreiche Kollegen aus ganz Rußland getroffen und waren
bereit
zusammenzuarbeiten. Puchnatschow hatte sich bemüht, die
unterschiedlichen
Mitglieder der Assoziation zusammenzuhalten und Projekte zu
realisieren, die
auf den verschiedensten Aspekten der russischen Campanologie
beruhten. Nachdem
er zurücktrat konnte niemand diese Funktion übernehmen, und
die Glöckner und Campanologen
gingen eigene Wege. Sein Nachfolger
Alexander Jareschko
aus Saratow stellte seine
persönliche Auffassung der wahren Art die russische Läutekunst
auszuüben über
alle anderen und war deshalb nicht in der Lage, die diversen
Interessen und
Sichtweisen der vielen über ganz Rußland verstreuten
Mitglieder und Zentren des
Glockenläutens zu vertreten. Es gab Auseinandersetzungen und
Konflikte und die
von Puchnatschow
mit viel
Enthusiasmus gegründete Vereinigung fiel auseinander und löste
sich auf als die
Mitglieder ihre eigenen Wege gingen. Ihn hatte ich ein letztes
Mal auf dem zwölften
Kolloquium zur Glockenkunde in Greifenstein zusammen mit
seiner moskauer
Kollegin Anna
Bondarenko Anfang
Oktober 2004 ganz kurz gesehen hatte aber danach keinen
Kontakt mehr zu ihm. Einige
Wochen später hatte er einen Autounfall, und er starb im
November 2005[2]. In den folgenden Jahren
telephonierte ich gelegentlich mit seiner
Witwe Natascha
und schrieb Emails
an meinen Freund und Kollegen Sergei
Tossin, der Campanologe und Professor für Komposition
am Konservatorium
in Nowosibirsk war und mehrere Bücher über Glocken und
Glockengeläute in
Rußland verfaßt hatte[3]. Dazu hatte er mir 1993 und 2001
zwei auf russischem Glockgeläute basierende Carillonwerke
geschrieben. Aber
nach dem zweiten Wettbewerb für russische Glöckner in
Jaroslawl hatte ich
vorerst keinen Grund und keine Gelegenheit nochmal nach
Rußland zu fahren. Natalija
Karowskaja war noch aktiv und
2010 übernahm sie die Leitung des Rostower Kreml-Museums und
veranstaltete dort
das erste internationale Sommerfestival. 2014 wurde im Rahmen
des Festivals das
25jährige Jubiläum der Assoziation der Glockenkünste in
Rußland gefeiert, der
im Mai 1989 in Rostow Weliki gegründet worden war. Mitglieder
der Assoziation
wurden eingeladen, Vorträge zu halten, die anschließend von Natalija Karowskaja
und Sergei Starostenkow
in dem Buch Колокола. Историа и современность. Материалы
научной конференции (Glocken
in Geschichte und Gegenwart. Die
Unterlagen der wissenschaftlichen
Konferenz) veröffentlicht wurden[4]. Eine große Tafel an der Wand mit
mehreren Photographien enthielt
Informationen über Puchnatschows
Leben, Arbeit und Verdienste, und ein kurzes Portrait von ihm
und zwei anderen
ebenfalls verstorbenen Mitgliedern, dem ehemaligen Leiter des
Kreml-Museums Wjatscheslaw
Kim (1938-2009) und dem
Glöckner aus Archangelsk Iwan Danilow
(1952-1998), erschien in dem von Alla
Widenejewa herausgegebenen Heft
25-летие основания ассоциации колокольного искусства
россии в Ростове
Великом (25. Jahrestag der Gründung
der Assoziation
der Glockenkunst in Rußland in Rostow Weliki)[5].
An einem Sonntagnachmittag Mitte Juni 2015
wartete ein sympathischer
junger Mann mit seiner Ehefau auf mich nach meinem
Carillonkonzert in
Berlin-Tiergarten. Es war Wiktor
Karowski,
der Sohn von Natalija
Karowskaja,
der als Architekt in Moskau arbeitete und gerade Urlaub in
Berlin machte. Er
richtete mir Grüße von seiner Mutter aus und berichtete mir, daß
sie ein großes
Festival in Rostow Weliki vom 21. bis 23. August veranstalten
wurde. Ein Monat
später schickte sie mir eine Email mit einer offiziellen
Einladung daran
teilzunehmen und einen Vortrag zu halten. Die Reise müßte ich
selber bezahlen
aber die Veranstalter würden die Kosten der Unterbringung und
der Verpflegung übernehmen.
Ich sagte zu und freute mich sehr auf die Reise und vor allem
auf ein
Wiedersehen mit meinen russischen Freunden und Kollegen, die ich
seit sechzehn
Jahren nicht mehr gesehen hatte. Außer einem kurzem Ausflug nach
Rostow während
des zweiten Wettbewerbs für russische Glöckner in Jaroslawl 1999
hatte ich die
Stadt seit dem Glockenfestival dort vor 26 Jahren auch nicht
mehr besucht[6].
Für
die Einreise brauchte ich aber ein Visum. Das russische
Generalkonsulat in
Dahlem gab es nicht mehr. Man könnte ein Visum bei der
russischen Botschaft beantragen,
aber dafür müßte man online einen Termin vereinbaren, und der
früheste, der mir
angeboten wurde, war der Tag, an dem ich meinen Vortrag halten
sollte. Also
wandte ich mich an das russische Visazentrum. Zuerst mußte ich
ein sehr langes Antragsformular
online ausfüllen. Zu den vielen detaillierten Angaben gehörten
u. a. die Daten
und Orte aller Auslandsaufenthalte der letzten zehn Jahre, die Namen, Adressen
und Telephonnummern aller
meiner Arbeitgeber (auch vergangene) und meines Hotels in
Rostow Weliki und die
Ausstellungsdaten aller meiner russischen Einreisevisen, die
ich bisher
bekommen hatte. Ich mußte auch die Namen, Adressen,
Telephonnummern und
Geburtsdaten aller Privatpersonen angeben, bei denen ich
wohnen würde. Man
mußte auch alle zutreffenden Fragen vollständig beantworten,
sonst dürften man
nicht zur nächsten Frage übergehen. Da es mir unmöglich war,
die
Ausstellungsdaten meiner früheren Visen zu ermitteln, habe ich
das eingetragen,
was ungefähr gestimmt haben müßte und hoffte auf das Beste. In
der Zwischenzeit
schickte mir die Mitarbeiter des Rostower Kremls eine
offizielle Einladung per
Fax. Sie wurde im Visazentrum überprüft und die Mitarbeiter
baten um eine
präzisere Formulierung des Zweckes meiner Reise und um eine
Einladung mit einer
offiziellen Stempel des Kreml-Museums darauf. Ich erhielt eine
neue Fassung per
Fax und ging damit und mit meinem gerade neu ausgestellten
Reisepaß, einem
Visaphoto in der passenden Größe und dem Antragsformular zum
Visazentrum. Das Büro
war immer sehr leer, es waren wenn überhaupt dann höchstens
zwei oder drei
andere Menschen anwesend, die ein Visum beantragen wollten.
Ich mußte also
nicht lange warten und reichte alles ein. Die Angaben wurden
überprüft, eine
mußte korrigiert werden, das kostete fünf Euro. Laut des
Antragsformulars wurde
klargemacht, daß aufgrund falscher oder unvollständiger
Angaben der Antrag auf
ein Einreisevisum abgelehnt werden könnte und daß die
russische Grenzbehörde sich
das Recht vorbehielt, einem die Einreise zu verweigern, auch
wenn man ein
gültiges Einreisevisum hatte. Ich äußerte meine Besorgnis über
die ungenauen
Angaben über die Ausstellungsdaten meiner früheren russischen Visen aber die Mitarbeiterin des
Visazentrums meinte,
daß das nicht so wichtig wäre. Man muß auch die Art von Visa
auswählen, die man
beantragen wollte, und ein Touristenvisa paßte nicht zum Zweck
meiner Reise. Die
Mitarbeiterin nahm Rücksprache mit ihrer Chefin und sagte mir
danach, daß ich
ein humanitäres Visa beantragen sollte. Sie sagte mir auch,
daß ich ein einmaliges
Einreisevisa oder eins, das drei Jahre lang gültig wäre
beantragen könnte. Da
das Visagebühr für beide Varianten gleich war, entschied ich
mich für die
letztere. Die Gebühren betrugen 150 Euro für das Visa, 27 Euro
Bearbeitungsgebühr und fünf Euro für die Korrektur. Wenn man
einen Termin bei
der Botschaft lange genug im Voraus vereinbart, kann man sich
die
Bearbeitungsgebühr ersparen. Da jedoch die ganze Prozedur
einfacher und zügiger
bei dem Visazentrem läuft, würde ich jedem empfehlen, den
Antrag dort zu
stellen. Europäer müssen jedoch zusätzlich dazu eine
Reisekrankenversicherung
nachweisen oder im Visazentrum gegen eine weitere Gebühr
abschließen; das blieb
mir als Amerikaner seltsamerweise erspart. Ich gab meinen Paß
ab und holte ihn
mit dem eingeklebten Visa zwei Wochen später ab.
Am 19. August flog ich mit Air Berlin nach Moskau und
landeten auf dem
neuen Flughafen Domodedowo südlich der Stadt. Nachdem ich mich
durch die
Schlangen vor den Einreiseschaltern durchgekämpft hatte, traf
mich Natascha
Puchnatschewa in der
Eingangshalle. Wir stiegen in ein Schuttlebus vor dem
Flughafengebäude ein und
fuhren in die Stadt. Auf dem nach Hauseweg gingen wir zu einem
Reisebüro, wo
ich die Bahnfahrkarten für die Hin- und Rückfahrt nach Rostow
Weliki kaufte.
Obwohl sie zweieinhalb Stunden ohne Zwischenhalt dauert,
kosteten sie insgesamt
nur 20 Euro. Wie in Deutschland muß man nicht nur das Ziel
sondern auch Tag und
Uhrzeit der Fahrt angeben. Man muß seinen Paß vorlegen und
bekommt zuggebundene
Fahrscheine mit einem reservierten Sitzplatz. Danach fragte
mich Natascha, ob
ich zu MacDonalds gehen wollte aber ich sagte ich wollte
unbedingt russische
Kost und so gingen wir zu einer russischen Cafeteria, wo man
einfache aber
schmackhafte Speisen bekam. Dann tauschte ich Geld in einer
Wechselstube, wo
ich 70 Rubel für einen Euro erhielt. Schließlich kauften wir
Lebensmittel in
einem Supermarkt. Im Laufe dieser Tätigkeiten wurde mir klar,
wie stark Rußland
während der letzten sechzehn Jahre sich verändert hatte.
Moskau war inzwischen
eine durch und durch kapitalistische Stadt geworden, die sich
äußerlich kaum
von New York, Amsterdam, Berlin, London und Paris
unterscheidet. Die Ladas sind
verschwunden, die Moskauer fahren jetzt amerikanische,
westeuropäische
und ostasiatische Autos. Das Angebot in den
Läden und
Supermärkten ist vielfältig und reichlich, und neben den
vielen russischen Gütern
gibt es auch mehrere der beliebstesten westlichen Produkte zu
kaufen. Es werden
auch dreißig Sorten Frühstücksflocken und Eiskrem und fünzig
Sorten Käse und
Wurst angeboten mit dem einzigen Unterschied, daß Angaben auf
den Packungen auf
Russisch geschrieben werden. Der Supermarkt hat sogar Spinde
für die Kunden,
die ihre Mitbringsel darin verstauen wollen, während sie
einkaufen.
Am
nächsten Tag brachte mich Natascha zum Bahnhof. Der Zug fuhr
um 14.34 ab, wir
gingen bereits um 13.30 los. Natascha sagte mir, das wäre für
sie ungewohnt,
sie würde ihre Züge sonst immer nur knapp vor der Abfahrt
erreichen. Wir nahmen
die U-Bahn. Die Zuggeräusche waren ohrenbetäubend, die meisten
Passagiere saßen
oder standen regungslos mit einem ernsten und ruhigen
Gesichtsausdruck und wenn
sie überhaupt redeten, dann nur kurz und leise. Viele schauten
auf ihre Handys.
Die Russen sind inzwischen genauso gut mit Computern,
Smartphones und Tablets
ausgestattet wie die übrigen Europäer. Wir mußten umsteigen,
durch lange Gänge
laufen und mit sehr langen und steilen Rolltreppen fahren. Als
wir endlich den
Bahnhof erreichten, merkte Natascha, daß anstatt am
Jaroslawler Bahnhof zu
sein, wir dort angekommen waren, wo die Busse zum Flughafen
abfahren. Jetzt
liefen wir den ganzen Weg zurück und mußten nochmal mit der
U-Bahn fahren. Ich
schaute auf die Uhr und dachte, daß ich den Zug nie
rechtzeitig erreichen würde!
In
Rostow Weliki holten mich zwei junge Mitarbeiter des
Kreml-Museums, der Hauptglöckner
und Leiter der Campanologischen Abteilung des Rostower
Kreml-Museums Wassili
Sadownikow und der
wissenschaftliche Sekretär des Museums Sergei
Archirejew mit einem Van am Bahnhof ab und brachten
mich zum Kreml.
Leider konnten die beiden genausowenig Englisch wie ich
Russisch aber später
benutzten sie ein Smartphone mit einem Übersetzungsapp und es
wurde mir endlich
klar, warum ich solch einen Apparat brauchte. Die Kremlgebäude
und -mauer waren
strahlend weiß, weil die Verwaltung dabei war, umfangreiche
Renovierungsarbeiten durchzuführen. Im Büro des Kremls empfing
mich Natalija
Karowskaja herzlich und dort
traf ich auch Sergei
Starowstenkow,
den ich zuletzt 1993 in Sankt Petersburg gesehen hatte.
Natalija gab mir die
Broschüre, die im vorigen Jahr anläßlich des 25. Jahrestages
der Gründung des
Assoziation der Glockenkünste in Rußland in Rostow Weliki
herausgegeben wurde. Danach
brachte ihre Assistentin Alena Kizim
mich zu dem Hotel дом на погребвкх „Haus auf den Kellern“, das
einst die Residenz
der Rostower Geistlichen gewesen war. Dort stellte man mir die
ehemalige
Wohnung des Metropoliten zu Verfügung. Die zwei große Zimmer
waren spärlich
aber komfortabel eingerichtet mit Möbeln und bunten Vorhängen
im russischen
Stil. Das kleine Bad hatte eine Dusche, Toilette und einen
Waschbecken. Ein
kleiner Kühlschrank stand in der Ecke des Wohnzimmers und ein
großer
Blumenstrauß, eine Tafel russischer Schokolade, eine große
Obstschale mit
Äpfeln und Birnen und eine Flasche russischer Sekt standen auf
dem Wohnzimmertisch
als Begrüßungsgeschenk zusammen mit einem gedruckten Faltblatt
mit der
Aufschrift The Program
of the Visit of
Jeffrey Bossin, a Berlin Carilloner (sic), das die
verschiedenen Programmpunkte
meines Besuches enthielt. Nach einer Stunde wurde ich abgeholt
und zum
Abendessen im Restaraunt Russischer
Bauernhof neben dem Kreml gebracht. Im hinteren Ausgang
der Anlage gingen
wir an zwei alte Bettlerinnen vorbei. Ansonsten habe ich ab
2015 fast keine arme
Menschen während meiner Reisen durch Rußland gesehen. Das
Restaraunt war mit
Tischen und Stühlen aus dickem dunkelem Holz ausgestattet. Die
Kellnerinnen
brachten mir mein Essen ohne daß ich sie dazu auffordern, es
bestellen oder
bezahlen mußte – Tischlein deck Dich wie von Zauberhand. Die
Mahlzeiten fingen
immer mit irgendeiner Art einfacher Suppe an, gefolgt von
einem Salat, z.B.
Krautsalat, einem Stück Fleisch mit Kartoffeln und irgendeiner
Nachspeise. Es
waren einfache aber schmackhafte Gerichte in bescheidenen aber
ausreichenden
Portionen. Mit Ausnahme von drei meiner älteren russischen
Kollegen sah ich auch
keine dicken Menschen in Rußland. Nach dem Essen ging ich auf
mein Zimmer und verbrachten
den Abend mit Lesen und Russisch
lernen.
Der
nächste
Tag, Freitag, 21. August, markierte den Beginn des dreitägigen
Festivals
mit dem Namen Ростовское действо
(Rostower
Spektakel), das seit 2010 alljährlich veranstaltet worden war.
Neben Konzerten
aller Art, Ausstellungen und Führungen durch den Kreml wurden
auch Kochkurse
und Kurse in Goldstickerei, Ikonenmalerei und Schnitzen
angeboten. An dem Morgen
traf ich mich mit Natascha
Jesina
am Eingang der Kremlanlage, die mir als Dolmetscherin bei
meinem ersten
Aufenthalt in Rostow 1989 zur Seite gestanden hatte. Wir
begrüßten einander
herzlich, bestiegen eine große schwarze Limousine mit
Chaffeur, holten Sergei
Starowstenkow von seinem Hotel ab
und führen nach Jaroslawl, begleitet von einer schönen jungen
Dame, die mich
bei diesem Aufenthalt als Dolmetscherin begleitete. Zuerst
besuchten wir den Kreml
oder Erlöser-Verklärungs-Kloster, wo
1992 und 1999 die
ersten beiden Wettbewerbe für russische Glöckner stattgefunden
waren. Wie die
vielen alten Kirchen der Stadt war die Anlage restauriert
worden, das Mauerwerk
neu gestrichen und die Zwiebeltürme vergoldet und mit goldenen
Kreuzen
ausgestattet. Als erstes wurde uns die Bärin Mascha in ihrem
Käfig gezeigt, die
als Jungtier im Wald gefunden wurde. Seit 1778 dient ein
aufrechtstehender Bär,
der eine goldene Streitaxt trägt, als Wappentier von
Jaroslawl, weil der
Gründer der Stadt, der Kiewer Fürst Jaroslaw der Weise, eine
von heidnischen
Aufsäßigen auf ihn losgelassene Bärin mit einer Streitaxt
getötet haben soll. Danach
liefen wir an einem neuen Denkmal zu Ehren des 1578 geborenen
Fürsten Dmitri Poscharski
vorbei, das ihn als Standfigur neben Soldaten und Bauern
überwacht von der
heiligen Maria mit dem Jesukind zeigt. Der Fürst war mit
seinen Truppen von
Jaroslawl nach Moskau marschiert, wo er die polnischen
Besatzungstruppen am 25.
August 1612 aus der Stadt vertrieb. Danach schauten wir uns
die 1831
erbaute Kirche-der-Jaroslawler-Wundertäter
an, dessen Innenwände mit blassen aber farbprächtigen und
teils
unvollständigen großen biblischen Figuren bemalt sind. Wir
erklommen den
danebenstehenden großen Glockenturm und ich sah, daß der große
hölzerne
Spieltisch mit den Holzhebeln zur Bedienung der tiefsten
Glocken inzwischen
entfernt worden war[7]. Es fiel
mir auf, daß mindestens sieben
Glocken des neunzehnstimmigen Swons, darunter zwei aus der Olowjanischnikow Gießerei in Jaroslawl, eine von Assverus
Koster in
Amsterdam, und eine
von dem Gießer Andrei
Kurbski aus
Pskow, aus der Zeit vor der russischen
Revolution stammten, und das mindestens vier weitere zu dem
Kurant oder
automatischen Glockenspiel des Turmes gehörten. Ich stieß bei
meinen weiteren
Reisen durch Rußland immer wieder auf solche alte Glocken, und
mit der Zeit bemerkte
ich, daß viele Glocken die in der campanologischen Literatur
stets berichtete
Zerstörung von bis zu 99% der Glocken in Rußland während der
20er und 30er
Jahre des vorigen Jahrhundertsentgangen waren. Obwohl die
Vernichtung sehr
weiträumig ablief und sowohl von den Sowjets durchgeführt als
auch von armen
Bauern unterstützt wurde, die ihre Glocken aus finanzieller
Not verkauften,
verlief sie nicht gleichmäßig noch war sie nicht allumfassend.
Und genau das
entspricht den Gegebenheiten eines sehr großen Landes wie
Rußland, wo die Lage
und Einstellung der Handelnden von Ort zu Ort variierten.
Viele Großglocken
wurden zerstört, weil sie Prestigobjekte und eng verbunden mit
der Zarenfamilie
und der Kirche waren und ihre Vernichtung auf offener Strasse
einen großen
Eindruck auf den schaulustigen Bürgern hinterließ. Aber viele
andere Glocken, große
und kleine, blieben in den Kirchtürmen und wurden verschont
oder konnten von
Gläubigen heruntergenommen und versteckt werden. Die
Beschlagnahmung der
Glocken lief von Ort zu Ort anders ab und es war einfach
unmöglich, bei der
gewaltigen Anzahl von Glocken verteilt über einem so großen
Reich, sie alle zu
zerstören, zumal an einigen Orten der Wille dazu fehlte.
untersucht, erhält und
ausstellt. Neben anderen sprachen Alexander Dawydow aus
Archangelsk, Sergei Starostenkow aus Sankt Petersburg
und Sergei Malzew
aus Rostow Weliki. Leider
gab es kein gedrucktes Programm mit den Namen der Vortragenden
und den Titeln
der Vorträge und sie wurden auf Russisch gehalten. Ich
referierte auf Englisch
über die Wartungsarbeiten an dem Carillon in Berlin-Tiergarten
und die
Carillonneurin Alexandra
Kapinos aus
Sankt Petersburg sprach über die Rundreise, die sie und ihre
Kollegen unter der
Führung des belgischen Carillonneurs Jo
Haazen durch Belgien und die südlichen Niederlanden
2014 unternahmen
hatten. Dort hatten sie die großen Instrumente von Antwerpen,
Brügge, Dordrecht
und Mechelen besichtigt und bespielten. Haazen
ist der ehemalige Leiter der Königlichen Carillonschule „Jef
Denyn“ in Mecheln
und initiierte und leitete zwei Projekte, die die Installation
von zwei neuen
Carillons in Sankt Petersburg zum Ziel hatten[8].
Frau Kapinos
hatte meinen Artikel
über das Carillon gelesen, der in dem Band Музыка колоколов
(Glockenmusik, Sankt Petersburg 1999) erschienen
war[9]. Sie
fragte mich, ob ich
gerne Sankt Petersburg besuchen möchte und ich sagte sofort
zu. Nach dem
letzten Vortrag gingen wir um 18 Uhr zum Kräutergarten am
südöstlichen Rande der
Kremlanlage. Dort gibt es ein Pavillon aus Holz mit Bänken
und Tischen, die mit
einem Buffet aus russischen Salaten, Broten, verschiedenen
Käse- und
Wurstsorten, gegrillten Wursten, usw. bedeckt waren. Zum
Trinken gab es Bier,
Wein und natürlich Wodka. Zu den Gästen zählten der Leiter
der Glockengießerei Vera
in Woronesch, Waleri
Anisimow, mit seiner Frau
Vera sowie der niederländische
Leiter der Amsterdamer Museen Björn
Stenvers, der von der russischen Regierung seit
einigen Jahren
beauftragt wurde bei der Restaurierung nationaler Denkmäler
& Anlagen wie
der Rostower Kreml mitzuwirken, und seine hübsche Ehefrau
Tamara Hoekwater, die
als professionelle Sängerin auftritt. Nachdem wir reichlich
gegessen hatten,
gaben die Russen eine Anzahl ihrer Lieblingslieder zum
Besten. Danach verabschiedeten
wir uns und ich zog mich in mein Quartier zurück, wo ich
wieder versuchte etwas
Russisch zu lernen.
Da
man den folgenden Vormittag frei hatte,
besuchte ich eine Ausstellung mit zeitgenössischen
russischen und französischen
Gemälden in der Bildergalerie der Abteilung für altrussische
Kunst. Stilistisch
machten die Werke den Eindruck, als wenn sie nicht erst in
den letzten Jahren sondern
bereits vor einem Jahrhundert entstanden wären. Als
Besonderheit gab es ein
kubistisches Bild mit dem Titel Samowar, das
der russische Maler Kasimir
Malewitsch um 1913 geschaffen hatte. In den Jahren nach der
Oktoberrevolution
kamen viele Maler aus Moskau nach Rostow, um dort in Ruhe zu
arbeiten. 1922
schenkten sie dem Kreml aus Dankbarkeit über vierzig Bilder.
Nachdem Stalin an
die Macht kam, mußten diese Malereien im Keller versteckt
werden. Allerdings
verschwanden mehrere davon im Laufe der Jahre. Nach der
Auflösung der
Sowjetunion wurden die übriggebliebenen aus ihrem Versteck
hervorgeholt und
ausgestellt (Leider hatte ich bisher nicht die Gelegenheit,
diese Bilder zu
betrachten). Um 11 Uhr bestieg ich den Glockenturm der
Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale
(Uspenski-Kathedrale). Statt dem üblichen runden oder
quadratischen hohen Bau
zu sein, ist er ein langgestrecktes Gebäude, eine sogenannte
Glockenwand. Elf
der fünfzehn Glocken hängen in einer Reihe, die sich über
die gesamte Länge des
obersten Teils erstreckt, die übrigen vier sind in einer
zweiten Reihe auf
Nach dem Mittagessen hörte ich mir die Glockenkonzerte an, die um 15 Uhr auf den beiden Swons der kleinen Glockentürmen dargeboten wurden, die auf den Kremlmauern neben der Kirche-der-Auferstehung und der Kirche-des-Heiligen-Johannes einander schräggegenüber stehen. Während des Festivals vom gab es solche Bespielungen von Freitag bis Sonntag um 12 Uhr, an den ersten beiden Tagen um 15 Uhr und am Sonntag um 14.45 sowie am Freitag um 16.45, Samstag um 17 Uhr und Sonntag um 16 Uhr. Dargeboten wurden sie von Alexander Fedorow aus Jaroslawl, Wiktor Karowski, Juri Kuschnirenko, Alexei Pugatschew und Nikolai Samarin aus Moskau, Wassili Sadownikow aus Rostow Weliki, Anton und Julia Dawidenko aus Sergijew Possad und Juri Korenman aus Witebsk, Weißrußland. Beide dieser Swons bestehen nur aus mittelgroßen und kleineren Glocken. Das erste der beiden Instrumenteumfaßt zehn aus den 17. bis 19. Jahrhundert, das zweite neun aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Wie bei den meisten Swons hängen die Glocken an Holzbalken, die im obersten Teil der Fensteröffnungen montiert wurden. Die Klöppelseilen der Saswonny, der kleinsten Stimmen, hängen frei herab und der Glöckner greift sie mit der rechten Hand und zieht die Klöppel gegen die Schlagringe der Glocken durch geschickte Drehbewegungen seines Handgelenks. Die Klöppelseile der Podswonny, der größeren Glocken, sind am oberen Ende eines Pfosten befestigt und der Glöckner bewegt die Klöppel, indem er die Seile mit seiner linken Hand und seinem Unterarm herunterdruckt. Der Klöppelseil der Blagowestniky, der größten Glocke, ist an einem Pedal festgebunden, das der Glöckner mit seinem Fuß niedertritt. Die Spieler der beiden Instrumente wechselten sich miteinander ab, sodaß das Geläute zwischen den beiden Türmchen hin- und herwechselte. Sie improvisierten eine Reihe Prasdnitschny Swons, sogenannter festlichen Geläute an allen drei Tagen des Festivals um 12.30, am Freitag, 21. August um 13.30 und an Samstag und Sonntag um 14 Uhr und am Samstag nochmal um 15.30 vorgeführt. Auf der Südseite des Hofes gab es die Stände mit Büchern, Souvenirs und aller Art heimischer kulinarischer Spezialitäten. Man konnte sich auch historische Kostüme ausleihen und sich als altrussischer Fürst mit Pelzmütze und einem farbigen Gewand reicht verziert mit goldenen Stickereien, Kunstperlen und Straßsteinen verkleiden. An diesem heißen Tag mit strahlend blauem Himmel ging ich zu einem kleinen Restaraunt neben dem Kreml und kaufte mir ein Eis. Davor gab es eine kleine provisorische Bühne ausgerüstet mit Mikrophonen, Verstärker und Lautsprechern, wo ein junges Pärchen in russischer Tracht Lieder sangen. Es folgte ein Strassenumzug, der paradoxerweise von Väterchen Frost geführt wurde. Ihm folgten weitere bunte Gestalten, u. a. Menschen bekleidet als Hochadelige, alte Krieger und hübsche junge Bauernmädchen mit großen Blumenkränzen auf dem Kopf. Danach gab es eine weitere musikalische Darbietung auf der Bühne, diesmal geboten von fünf älteren Männern mit dunkelen Hosen und farbigen traditionellen russischen Oberhemden. Sie sangen beliebte russische Lieder und begleiteten sich mit Akkordeons und Balalaikas. Um 17 Uhr wurde wieder auf den beiden Swons in den kleinen Glockentürmen gespielt.
Um
19 Uhr speiste ich im Festsaal des Restaraunts Russischer Bauernhof.
Dort gab es einen langen Tisch und eine Bar mit einer großen
Auswahl an Bier- und
Weinsorten und Spirituosen aller Art. Der Oberteil der Wände
waren
passenderweise mit einem Glockenfries dekoriert. Um 20 Uhr
begann das Galakonzert
des Festivals, das auf einer großen Freiluftbühne auf der
Westseite des
Innenhofs des Kremls stattfand. Der Abend stand ganz im
Zeichen der russischen
Kultur, die in den letzten Jahrzehnten bei den Veranstaltungen
des Landes im
Vordergrund stand. Das Orchester der Neuen Oper in Moskau[13], geleitet von Dmitri Wolossnikow, bot ein Programm mit
symphonischen
Werken russischer Komponisten dar. Neben der
Krönungsszene aus der Oper
Nach
dem
sonntäglichen Frühstück ging ich zum Ufer des Nerosees, der an
den Rostower
Kreml grenzt. Dort bestiegen die Teilnehmer der
campanologischen Konferenz ein
kleineres überdachtes Flachboot mit Kunststoffenstern, die
ringsherum eine gute
Aussicht boten.
[1]
Ausführlicher
Bericht darüber in
Jeffrey Bossin,
Festtagsgeläute für den heiligen
Fürsten Alexander Newski: Die ersten beiden Wettbewerbe
für russische Glöckner
1992 und 1999. Dokumentation und Reisebericht. In: JbGk
21/22 (2011-2012),
S. 367-389.
[2]
Vgl. Jeffrey Bossin und Konrad
Bund,
In
Memoriam. Prof. Dr. Juri Puchnatschow (1941-2005). In:
JbGk 17/18 (2005-2006),
S. 592-594.
[3]
Vgl. Jeffrey Bossin,
Campanologische Neuerscheinungen
aus Rußland. Ein Überblick über einige neue Bücher, CDs
und DVDs der letzten
achtzehn Jahre. In: JbGk 27/28
(2015-2016), S. 509 und JbGk
29/30 (2017-18), S. 507-512.
[4]
Vgl. Bossin:
Campanologische Neuerscheinungen
aus Rußland. Ein Überblick über einige neue Bücher, CDs
und DVDs der letzten
achtzehn Jahre. In: JbGk 27/28
(2015-2016), S. 508-509.
[5]
Vgl. Bossin
(wie Anm. 4), S. 508.
[6]
Vgl. Jeffrey
Bossin, Glockenfestivals,
Seminare,
Symposien und Tagungen in Rußland 1989 - 2015
[7]
Das
Christ-Verklärungs-Kloster in Jaroslawl hat zwei
Glockentürme mit jeweils
einem Swon. Einige Photos von den Glocken und Angaben dazu
befinden sich in Jeffrey
Bossin,
Festtagsgeläute für den heiligen Fürsten Alexander Newski:
Die ersten beiden
Wettbewerbe für russische Glöckner 1992 und 1999.
Dokumentation und
Reisebericht. In: JbGk 21/22 (2011-2012), S.
367-369. Weitere Photos
sind im Anhang dieses Artikels.
[8]
Vgl. Jeffrey Bossin,
Die
vier Carillons von Sankt Petersburg. In: JbGk 27/28
(2016/17), S. 237-250.
[9]
Vgl. Jeffrey Bossin,
Campanologische
Neuerscheinungen aus Rußland. Ein
Überblick über einige neue Bücher, Kataloge,
Zeitschriften, CDs und DVDs
1997-2017. In: JbGk 29/30 (2017-2018), S. 391-396.
[10]
Photos
von der
Glockenwand und den Glocken und Angaben dazu befinden sich
im Anhang dieses Artikels.
[11]
Siehe Olesja Rostowskaja,
O R Rus Peal
in Carillon Comp,
YouTube Video https://yadi.sk/i/qS_4v9T73TUxaW
[12]
Siehe
Aristarch Israilew,
Ростовские
колокола и звоны (Rostower
Glocken und Geläute), Sankt Petersburg 1884, Übersetzt von
Klaus Meister,
o. O.
1994.
[13]
Die Neue Oper
in Moskau wurde 1991 von dem russischen Dirigenten Jewgeni Kolobow mit
Unterstützung des
damaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow gegründet. Kolobow
war
Chefdirigent und künstlerischer Leiter bis zu seinem Tod
2003. Er war auch
Jury-Mitglied der beiden Wettbewerbe für russische Glöckner
in Jaroslawl 1992
und 1999, wo ich mit ihm zusammenarbeitete.
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www.youtube.com/watch?v=hYSGuQosRJ8