Arie Abbenes bespeelt de Hemony-beiaarden van Utrecht (1991, Utrechtse Klokkenspel Vereniging, "Rose Productions" Venlo, 1 CD, 24 Tracks, 74:16 Minuten, 17 Euros)

 

Arie Abbenes gehört zu den bedeutenderen Künstlern der niederländischen Carillonwelt, und dementsprechend erscheint sein Name auf dem Deckblatt der CD-Broschüre und auf der CD selber wesentlich größer als alle andere Informationen. Wenngleich an der Belgischen Carillonschule in Mecheln ausgebildet, wurde er bald Dozent an der niederländischen Carillonschule in Amersfoort und Carillonneur von Utrecht. Auf dieser CD bietet er ein Programm vorgetragen auf den beiden Hemony-Carillons jener Stadt - die ersten neunzehn Stücke auf dem großen Instrument des Domes mit 50 Glocken (fis°, a°, h°, cis1 - h4) und die letzten fünf auf dem kleineren der Nicolaikerk mit 43 Glocken (e1, a1,  h1, cis2 - e5) gespielt. Beide Instrumente wurden von der Gießerei Eijsbouts 1972 bzw. 1985 generalüberholt und um mehrere Glocken erweitert. Wegen seiner regelmäßigen Auftritte beim alljährlich stattfindenen Holland Festival für Alte Musik verfügt Abbenes über ein entsprechendes Repertoire an Werken aus der Zeit vor 1800, und diese CD besteht ausschließlich aus solchen Stücken: Musik ursprünglich für Cembalo, Laute, Viola da Gamba, Violine und Orchester, usw. komponiert und von Abbenes für Carillon bearbeitet.

     Als erstes erklingt die Ouvertüre zur Händels Oper Theseus. Sie besteht aus zwei langsamen in punktierten Noten gehaltenen Abschnitten mit jeweils einem anschließenden Allegro. Abbenes zeigt sich als ein kompetenter Carillonneur, der sein Instrument gut beherrscht. Die Ausführung ist sauber, die Rhythmen exakt, die Triller und Verzierungen präzise gespielt, die Phrasierung klar und ausdrucksvoll, der abschließende Gestus souverän und carillongerecht gestaltet. Dasselbe gilt der nachfolgenden Werke berühmter Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach, Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi sowie wenig bekannter Tonkünstler wie Francesco Canova da Milano, Louis de Caix d´Hervelois und Claude-Bénigne Balbastre. Im ersten Satz von Vivaldis Konzert in b-Moll op. 3 Nr. 10 zeigt sich Abbenes von seiner besten Seite - ihm liegen besonders die motorischen schnellen Stücke, wenngleich der dritte Satz ein bißchen matt klingt. Aber auch das Larghetto von Carl Philipp Emanuel Bachs Sonate g-Moll Wq 65/27 und das Adagio von Joseph-Hector Fioccos Sonate G-Dur werden sehr ausdrucksvoll gespielt. Das schöne Andante der Fiocco Sonate, das bei den Carillonneuren großer Beliebtheit erfreut, gelingt Abbenes allerdings nicht in demselben Masse. Seine Bearbeitung weicht vom Original an mehreren Stellen ab, seichte Triller ersetzen Betonungen, die Melodik wird mit zahlreichen Verzierungen überladen.

     Insgesamt betrachtet ist diese dennoch eine solide CD, die Beachtung verdient. Allerdings ist sie eher eine für Kenner als für Liebhaber. Die Diskantglocken, besonders die des Dom-Carillons, haben eine kurze Nachhallzeit und klingen trocken und spröde (bessere Klöppel würden womöglich Abhilfe schaffen). Abbenes Versuch, dies durch Verzierungen zu kompensieren, wirkt manchmal übertrieben. Die mitteltönige Stimmung paßt nicht zu den Werken der Barockzeit, es sind immer wieder schief klingende Töne zu hören, die das Ohr beleidigen. Bei den großen heftig angeschlagenen Tontrauben auf den tiefen Glocken in Balbastres Marche des Marseillois zuckte ich unwillkürlich zusammen. Das kleine Carillon der Nicolaikirche wirkt im Vergleich zum gewaltigen Instrument des Domes nur noch wie eine niedliche Spieldose. Außerdem können 74 Minuten Alter Musik gespielt auf derlei Instrumenten ermüden und eintönig klingen, besonders weil fast nur unbekannte Werke zu hören sind. Warum erklingen nicht mehr Stücke wie das schöne Konzert von Vivaldi? Warum sind keine der beliebten Werke von Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel dabei? Jeder kennt zwar die Marseillaise, doch wenngleich die Bearbeitung aus dem Jahre 1792 stammt, wirkt diese noch heute populär patriotische Melodie zwischen der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach und Constantijn Huygens seltsam deplaziert. Und schließlich egal wie carillongerecht sie bearbeitet wurde, stellt sich die Frage, ob die Musik von Komponisten wie Luys de Naráez und Constantijn Huygens es verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. Verglichen mit den Werken eines Bachs, Händels und Vivaldis verblaßt sie. Seltsamerweise ist kein einziges Stück des blinden Utrechter Carillonneurs und Flötenspielers Jacob van Eyck dabei, dessen umfangreiche Sammlung "Der Fluyten Lust-hof" Mitte des 17. Jahrhunderts im Druck erschien. Als Ganze genommen ist die CD also etwas gewöhnungsbedürftig, wenngleich der Kenner mit Hilfe eines programmierbaren CD-Players die Rosinen herausklauben kann.

     Wer das Carillon des Utrechter Doms von einer anderen Seite kennenlernen möchte, kann sich die beiden Platten anhören, die Chris Bos, Abbenes' Vorgänger als Stadtcarillonneur von Utrecht, einspielte: Klokken en Klokkenspel Utrecht und Carillon en Luidklokken Domtoren Utrecht. Die erste bietet ein vielseitiges Programm mit Bearbeitungen beliebter Werke von Bach und Dowland, mit einem virtuosen Carillonstück von Henk Badings, dem wichtigsten niederländischen Komponisten der Nachkriegszeit, und mit einer Improvisation über das altenglische Volkslied Greensleeves. Die zweite Platte ist, wie Abbenes' CD, hauptsächlich Alte Musik gewidmet: einer Improvisation über ein niederländisches Volkslied aus dem 17. Jahrhundert und Werke von Bach, Scarlatti und Sweelinck. Auch vier Stücke von Utrechter Carillonneuren sind zu hören: eine Sarabande von Jacob van Eyck und je ein Stück von zwei Mitgliedern der Utrechter Carillonneurssippe Wagenaar sowie eine Passacaglia von Bos selber. Das meisterhafte und souveräne Spiel klingt noch ausdrucksvoller und wärmer als das von Abbenes, der Carillonneur zeichnet auch ein abwechslungsreicheres Klangbild. Wer sich obendrein für das Domgeläut interessiert, das auch mehrere Geert van Wou Glocken aus seinem 1505 gegossenen Geläut enthält, kann Aufnahmen davon auf beiden Platten hören: sechs schwere Glocken auf der ersten der o. g. Platten und sechs andere schwere sowie das gesamte dreizehnstimmige Geläut auf der zweiten Platte. Beide Tonträger wurden von der Utrechtse Klokkenspel Vereniging produziert; möglicherweise hat sie noch welche vorrätig. Wer sie in die Hände bekommt wird merken, daß der Name des Carillonneurs entweder nur in kleinen Buchstaben ganz unten oder sogar gar nicht auf der Vorderseite der Plattenhüllen sondern nur sehr kleingeschrieben auf der Rückseite erscheint. Hier stehen die Musik und die Glocken im Mittelpunkt.

 

Jeffrey Bossin


© Jeffrey Bossin