Erinnerungen an Otto Becker, der letzte Carillonneur der Potsdamer Garnisonkirche

Erzählt von seiner Witwe Elisabeth Becker in Potsdam am 14. Juli 1993

Ein Interview geführt von Jeffrey Bossin

 

Otto Becker, geboren 1870 in Breslau als zweites von acht Kindern des Tischlermeisters Berthold Becker und seiner Ehefrau Luise, war Carillonneur an der Potsdamer Garnisonkirche 1910 bis 1945. 1721 hatte König Friedrich Wilhelm I. in Preußen der Kirche ein automatisches Glockenspiel mit 35 Stimmen von dem Amsterdamer Gießer Jan Albert de Grave gestiftet. Als die erste Kirche abgerissen werden mußte und der Architekt Philipp Gerlach 1735 eine neue errichtete, wurde das Glockenspiel um fünf große Baßglocken des Berliner Gießers Johann Paul Meurer erweitert und von dem Berliner Carillonneur Arnoldus Carsseboom zu einem Carillon mit Stockspieltisch umgebaut[1]. Otto Becker war der letzte einer langen Reihe von Carillonneuren, die das Instrument bedienten[2]. Der gebürtige Schlesier erhielt aufgrund seiner musikalischen Begabung mit sieben Jahren Geigen- und mit zehn Jahren Klavierunterricht. Im Alter von 21 Jahren ließ er sich an der Berliner Hochschule für Musik zum Organist ausbilden und war ab 1894 an verschiedenen Kirchen tätig bis er 1910 die Stelle an der Potsdamer Garnisonkirche erhielt. Während seiner musikalischen Tätigkeit schloß er Feundschaft mit Johannes Brahms, Max Bruch, Hans von Bülow und Max Reger. Er heiratete die Geigerin Bianca Samolewska und hatte vier Kinder mit ihr, bis sie 1925 im Alter von 49 Jahren starb. Sechs Jahre später nahm er die junge Elisabeth Wildt als zweite Ehefrau, die ihm bis zu seinem Tode 1954 liebevoll und treu diente. 1993 machte ich die inzwischen hochbetagte Witwe in Potsdam ausfindig und führte einen Interview mit ihr über ihren Ehemann Otto Becker und seine Tätigkeit als Potsdamer Carillonneur[3].

In welchem Jahr haben Sie Ihren Mann kennengelernt?

Ich habe in meiner Jugend eine Tagesstätte in Potsdam geleitet. Und da kommt eines Tages ein niedliches zehnjähriges Mädchen und sagt Ich wollte mal fragen, ob ich hier die Schularbeiten nachmittags machen durfte. Natürlich sage ich Nun erzähle mir zuerst wer du bist. Ja, ich heiße Ursula Becker und mein Vater der ist der Organist und Glockenist von der Garnisonkirche. Ja, wissen Sie, mein Vater ist klein, aber ein großer Künstler! Kommen Sie doch mal zum Kaffee zu uns ins Kantorhaus. Das war schräg gegenüber. Und so fing es an. In September 1929 sind wir in der Friedenskirche getraut. Mein Mann war vier Jahre Witwer und hatte vier Haushälterinnen, die er alle – auf Deutsch gesagt – rausgeworfen hatte. Ich fand nachher stoßweise Besteckkästen, war aber nichts mehr drin von Silber, alles mitgenommen. Bettwäsche. Sag, habt Ihr nicht eine hübschere Kaffeedecke? Haben sie alle mitgenommen. Also mein Mann war kein bißchen praktisch und wurde insofern ausgenutzt und sehr bestohlen, also ich muß ganz ehrlich sagen so schlimm wie es war habe ich mir den Anfang nicht vorgestellt. Aber ich hatte ja zum Glück auch ein bißchen schon gesammelt und konnte manche Löcher gleich stopfen und mit der Zeit haben wir dann gemeinsam wieder alles ganz hübsch gehabt.

Wieviele Kinder hatten Sie dann insgesamt?

Ich hatte kein eigenes, sie stammten alle aus der ersten Ehe meines Mannes. Also, der älteste, Curt, war der Cellist, der nachher viele Jahre Solocellist am Bratislaver Rundfunkorchester war. Der zweite, Robert, war Fagottist und bekam nachher eine Stelle im Orchester von Unna in Westphalen. Die Tochter Ursula war sehr begabt, spielte hübsch Klavier, und ist jetzt mit einem berühmten Poträtmaler verheiratet, Gottfried Stein, der alle prominente Geistliche und Politiker drüben gemalt hat.

Was hat Ihr Mann für Stücke auf dem Glockenspiel gespielt?

Ja, das sind so viele, die kann ich hier gar nicht aufzählen. Sehr viele Choräle aus dem Gesangsbuch und die er sonst irgendwo gehört hatte und auch sehr viele Volkslieder. Als er starb hatte er 200 Choräle und Volkslieder für das Glockenspiel gesetzt. Die Noten müßen ja anders als auf dem Klavier gesetzt werden.

Und alle Lieder, die er spielte, hat er selber gesetzt?

Ja.

Hatte Ihr Mann bestimmte Lieblingslieder oder Lieblingschoräle?

Eigentlich nicht. Er sagte Ich bin vor die Wahl gestellt, welche Choräle ich zu diesem Anlaß spielen möchte aber ich muß sagen, ich bin mir noch nicht einig, den finde ich schön, den finde ich aber auch sehr schön! Also er liebte viele geistliche Musik.

Hat er zu bestimmten Anlässen bestimmte Choräle oder Lieder spielen müßen?

Nein, das war nicht der Fall.

Hat Ihr Mann selber Stücke für das Glockenspiel komponiert?

Nein, nur bearbeitet.

Fallen Ihnen irgendwelche von den Titeln ein?

Sehr gerne sagte ich manchmal „Spiel mal wieder Wie schön leuchtet der Morgenstern, das finde ich immer so schön und freundlich. In der Hitler-Zeit stand ein Nationalsozialisten unten und sagte Ach, Herr Professor, ich habe zugehört, das war ja wieder heute schön, Ihr Glockenspiel, und das letzte Stück hat mir ja am besten gefallen. Ja sagte mein Mann das freut mich recht, das ist von dem geächteten Mendelssohn, Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben.

Hat er oben auf dem Glockenspiel ab und zu üben müssen?

Das ist es ja! Als er anfing, da wußte er gar nicht was ein Glockenspiel ist! Da sagte er Was, ich soll ein Glockenspiel, wie wird denn das bedient? Ach, denn laufen Sie mal rasch zu Ihrem Vorgänger Baltin, aber der liegt schon im sterben, hoffentlich kann er Ihnen noch ein paar Ratschläge geben. Das tat mein Mann und fragte ihn nur auch so gut wie es geht, war aber entsetzt als er dieses große Brett mit den vielen Tastenstöcken vor sich sah. Was machst Du denn bloß? BAAAAHHHH! Das scheint A zu sein. So hat er sich selber mühsam die Tonleiter zusammengesucht – es waren ja 40 Glocken - bis er die alle im Kopf hatte. Und die Übezeit war schwierig, es ist ja so unangenehm wenn die Leute die falschen Töne hören, aber er müsste sie mühsam selbst erlernen.

Und wenn er neue Bearbeitungen gemacht hat?

Na da hatte er sie ja schon intus.

Hat er sie mit oder ohne Noten gespielt?
Mit Noten. Die sind denn auch nachher alle verbrannt


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Abb. 1: Otto Becker am Spieltisch des Carillons der Potsdamer Garnisonkirche.
Photo aus Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam.


Hat er beim Spielen er die Tasten umklammert?

Ja, umklammert. Er hat sie bis zur Mitte gegriffen und dann mit aller Wucht runtergedruckt. Es war schwer. Aber er hatte ziemlich kräftige Hände für sein sonst zierliches Wesen.

Hat er auch die Pedale gespielt?

Auch.


Abb. 2: Die Spielkaine und die Glocken, aufgenommen 1935.
Photo aus Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam.

Und waren Sie auch manchmal dabei, während er spielte?

Ach, wir haben fidele Abende da oben verlebt! Ja, er hatte ja Studienfreunde und eine gute Flasche Wein mit raufgenommen und ich machte Brötchen und brachte ein paar Klappstühle mit und dann saßen wir da, unter uns Potsdam, wir waren erhaben. Es war ja furchtbar laut wenn man daneben stand, sehr laut. Aber uns machte das nichts aus, wir hörten denn mal auf und genossen den fröhlichen Abend. Meinem Mann ist ja allerlei tolle Sachen passiert. Also einmal Silvester mußte er spielen, also Punkt zwölf, nachdem die Kirchenglocken geläutet hatten. Einmal hatte er den Schlüssel zur Glockenkammer vergessen. Was hat er gemacht? Scheibe eingeworfen und die Splitter abgebrochen, damit er sich nicht zu sehr verletzen würde, bloß seine Jacke war nachher ziemlich verrissen und er ist auf allen Vieren in die Glockenkammer gekrochen, um ja pünktlich anzufangen mit denen ja dem Publikum bekannten üblichen Silvesterliedern.

Hat er jeden Silvester gespielt?

Ja, und ob es kalt oder warm war, er war ja übrigens unempfindlich so der Temperatur gegenüber. Das war sein Amt und das mußte sein, ob es kalt war oder schneite oder Sonnenschein war, er war sehr treu.

Wann hat er sonst in der Winterszeit gespielt?

Manchmal war die ganze Geschichte vereist und eingefroren, dann konnte er nicht. Aber sonst einmal in der Woche bestimmt, und das immer nach dem Gottesdienst. Übrigens Donnerstags war der sogenannte Besuchertag, Tag der Fremden. Es kamen Leute mit Bussen schon damals zum Teil und dann spielte er von drei bis fünf. Und das wußten schon die Berliner und die in der Umgebung auch. Heute ist der Tag, da wollen wir nach Potsdam, da spielt ja der Professor. Und dann hat er selber gewählt was er spielen wollte. Das war in den Dreißiger Jahren, da habe ich es jedenfalls erlebt.

Konnten die Leute auch nach oben klettern und die Glocken aus der Nähe betrachten?

Ja, konnten sie, aber die wenigsten taten es, 365 Stufen darauf! Es war ein schwieriger Aufstieg. Also eine  Stufe war hoch, die andere war niedrig, die eine war ausgetreten, die andere war erneuert, Und mein Mann war, wie gesagt, von kleiner Statur, also, daß er das bis ins hohe Alter geschafft hat, ist wirklich auch von der Sicht aus eine Erkennungswert. Und er tat es gerne. Mein Mann war Schlesier und wir wurden furchtbar bewundert als wir auf die Schneekoppe gestiegen waren. Ich wurde gefragt War Ottchen auch dabei? Ja, er ist ja mitgekommen. Na sage ich Dir, er ist es ja gewöhnt, sein Glockenspiel ist


[1] Zur Geschichte des Carillons der Potsdamer Garnisonkirche Vgl. Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam. Berlin 1991.

[2] Zur Otto Beckers Tätigkeit als Carillonneur Vgl. Jeffrey Bossin:  Die Carillons in Deutschland. Teil II: Die Deutsche Carillonkultur im 20. Jahrhundert: Blüte, Vernichtung, Wiederaufbau und Wiedervereinigung, JbGk, 5/6        ( 1993/1994) S. 127 - 151.

[3] Wenngleich im fortgeschrittenen Alter war Elisabeth Becker geistig sehr rege und völlig klar im Kopf. Ihre Erzählweise war sehr lebendig und sie hatte sogar Spaß daran, die Stimmen der verschiedenen Personen, deren Äußerungen sie wiedergab – ob das Kinder, Erwachsene oder alte Menschen waren – nachzuahmen.


© Jeffrey Bossin