Carillonkonzert mit Elektronik
im Rahmen der Werkstatt elektroakustischer Musik zu Berlin Kulturhauptstadt Europas 1988

20. und 21. August 1988 um 14 bzw. 18 Uhr

Jeffrey Bossin, Carillonneur, Berlin Vox veterrima

 Programm
Avantgarde auf dem Carillon

I.
Musik für Solocarillon
Tower Music (1987) Uraufführung     Roy Hamlin Johnson

Music for Carillon No. 3 (1954)     John Cage

 For Carillon (1987) Uraufführung     László Dubrovay

 Berlin Fireworks Music/Solofassung (1987)     Richard Felciano

 Summer Fanfares (1956)     Roy Hamlin Johnson

II.
Musik für Carillon und Elektronik
Vox veterrima für Carillon, Midi, Schlagzeuger und Tonband (1988) Uraufführung     Ricardo Mandolini
Carillon: Jeffery Bossin; Midi-Tastatur: Ricardo Mandolini; Schlagzeugdirigent: Martin Schulz
Schlagzeuger: Volker Frischling, Robin Minard, Stefan Thiele und Rolf Tünnes.
Tontechnik, Klangregie und Aufbau: Folkmar Hein und Thomas Schneider.  

Veranstaltet von CarillonConcertsBerlin und Werkstatt Elektroakustischer Musik in Zusammenarbeit
mit dem Elektronischen Studio der TU Berlin und mit Förderung des Senators für Kulturelle Angelegenheiten

Ricardo Mandolini, geb. 1950 in Buenos Aires, Argentinien, studierte Komposition an der Kölner Musikhochschule ab 1977 und arbeitete danach in elektronischen Studios in Gent, Köln, Stockholm und Bourges. Er bekam mehrere internationale Auszeichnungen für sein elektronisches Schaffen und war 1978 DAAD-Stipendiat in Berlin. Zwischen 1980 und 1986 schuf er mehrere Stücke im Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin in Zusammenarbeit mit Folkmar Hein, die im Rahmen des elektroakustischen Festivals Inventionen in Berlin aufgeführt wurden. 

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Carillonturm, Tonband und Mischpult
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Jeffrey Bossin, Ricardo Mandolini und Folkmar Hein
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Am Mischpult von links nach rechts: Thomas Schneider, Bernd Schönhaar und Folkmar Hein
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Der Carillonspieltisch mit der Partitur von Vox veterrima
in fünf verschiedenen Haufen über dem Notenpult verteilt
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Auszüge aus der Partitur von Vox veterrima.

     Der Name Vox veterrima - "Stimme aus alter Zeit" oder "Uralte Stimme" - erinnert an die traditionelle Aufgabe der Glocke, alle wichtigen öffentlichen Ereignisse anzukündigen. Das Werk basiert auf elektronisch verarbeiteten Glockenklängen. Alle Glocken des Carillons in Berlin-Tiergarten wurden einzeln aufgenommen, und dieses Material wurde einer Spektralanalyse unterzogen, um dann in einer Re-Synthese den Glockenklang zu rekonstruieren. Dazu wurden mit Cmusic auf einem VAX-Computer harmonische Überlagerungen von mehr als 100 Glockenklängen vorgenommen. Das Synclavier II wurde zur Synchronisation des ersten Abschnittes verwendet. Mandolini schuf drei verschiedenen Tracks mit elektronischen Klängen und auf dem Synclavier gespielten Motiven. Die Elektronik ertönt aus drei großen Lautsprechern, die auf derselben Seite des Turms stehen, wobei je einer links und rechts vom Turm und der dritte in 20 Meter Höhe im Turm platziert sind. Die Bewegungen der Elektronik von einem Lautsprecher zum anderen erzeugt beeindrückende Raumklänge. Mit einigen Ausnahmen läuft die Elektronik während der gesamten Aufführung und wird von dem Carillonneur und bei der Uraufführung wurde von einem Pianist, der mittels einer MIDI-Tastatur die Hämmer der Automatik (c2 bis c4) steuert und von vier Schlagzeugern begleitet.

      Vox veterrima besteht aus zwei Hauptteilen mit mehreren Abschnitten. Der erste Teil dauert ungefähr dreizehn Minuten und umfaßt die Abschnitte Initia nascendi (Elemente der Entstehung, der Geburt), Ignis ingens (gewaltiges Feuer), Divinum testimonium (göttliches Zeugnis), Praeconium (Verkündigung, Verherrlichung), Concilia populi (Volksversammlung), Intuitio tenebris (düstere Vorahnung) und Calamitas bellum (Kriegsniederlage, Kriegeskatastrophe). Der zweite Teil dauert rund dreieinhalb Minuten und besteht aus den zwei Abschnitten Novum mysterium (neues Geheimnis) und Aestus minantes (drohende Gluten, Fluten, Leidenschaften). Die Form des Werkes ist sorgfältig strukturiert und hat mehrere dynamische Höhepunkte. Der Komponist verwendet verschiedene Kombinationen von elektronischen und instrumentalerzeugten Klängen und Geräuschen, um eine Reihe von originellen und phantasievollen Texturen zu schaffen. Die einzelnen Elemente - Arpeggien, Arabesken, Kadenzen, Tonrepetitionen, Tremoli, Akkorde und die aus ihnen entwickelten  Motive – werden exponiert und in bestimmmten Abständen wiederholt, variiert und weiterentwickelt. Das Werk beginnt mit einem zarten Dialog aus Arabesken und wiederholten Tönen, die sowohl elektronisch als auch auf dem Carillon in höchster Lage erklingen. Während des nächsten Abschnitts Ignis ingens wird der Klangraum allmählich nach unten erweitert, und das erste Hauptmotiv – der wiederholte Akkord a1-c2-as2-c3 – ist an drei verschiedenen Stellen im Carillon zu hören. Praeconium beginnt mit zwei Carillon-Arabesken, denselben, womit sowohl die Elektronik als auch das Carillon am Anfang des Stückes einsetzen. In Concilia populi erklingen zwei weitere Hauptmotive: die Carillon-Arpeggien dis1-h1-des2-ges2-b2-d3 am Anfang und der Elektronik-Akkord Cis-cis-f-a-c1-e1 etwa eine Minute danach. In der Mitte vom Intuitio tenebris kehrt das erste Hauptmotiv zurück, diesmal als eine Figur, die sich aus einer Viertel-, einer punktierten Viertel-, einer Achtel- und zwei Viertelnoten in der Elektronik zusammensetzt. Am Ende von Calamitas bellum ertönt es auf den tiefsten Glocken des Carillons und schließt den ersten Hauptteil des Stückes. Vox veterrima endet mit einem vierten Hauptmotiv, einer Reihe von Akkorden, die ständig und immer lauter bis zum dreifachen Forte wiederholt werden. Eine Variante des ersten Hauptmotivs, gespielt vom Carillon und von der MIDI-Stimme, beendet das Werk. Die gewaltige Spannung wird durch eine elektronische Kandenz gelöst, ein Riesenglissando, das das Stück in die Tiefe reißt.

      Während der Aufführung muß der Carillonneur mit den anderen Stimmen genau zusammenspielen. Ich benutze die vollständige Partitur, damit ich den Verlauf der elektronischen Geräusche und übrigen Stimmen verfolgen und meine Einsätze sehen kann. Um die sehr kleinen Noten lesen zu können, teile ich die 53 Seiten der Partitur in fünf Gruppen auf, je nach der Oktavelage der jeweiligen Noten. Um die fünf Gruppen auseinanderzuhalten und die Seiten von jeder Gruppe stets in der richtigen Reihenfolge zusammmenstellen zu können, habe ich die Seiten von jeder Gruppe mit Filzstiften unterschiedlicher Farbtöne neu nummeriert. Ich spiele jede Seite zu Ende und lege sie dann rasch beiseite, um auf der darunterliegenden weiterspielen zu können. Wenn es am Ende einer Seite keine Pause gibt, muß ich zwei oder drei Seiten nebeneinander legen, um sie hintereinander abspielen zu können. Wird es notwendig die Gruppe zu wechseln, dient ein Pfeil mit der Farbe der neuen Gruppe am Ende der Seite als Hinweis darauf. Bei alldem muß ich stets darauf achten, irgendwann die bereits gespielten Seiten zu entfernen, damit ich, wenn ich zu einer Gruppe zurückkehre, nicht die alte, sondern die darunterliegende Seite vor mir habe. Die Elektronik höre ich über Lautsprecher in der Spielkabine und bei schwierigen Stellen bekomme ich den Einsatz von einem Klicktrack, den ich über Kopfhörer höre. Im Laufe der Zeit mußten einige unspielbare Carillonpassagen etwas vereinfacht werden. Die Schlagzeug- und MIDI-Stimmen wurden im Studio aufgenommen und der Elektronik als zusätzliche Spuren hinzugefügt, sodaß jetzt nur noch ein Carillonneur, ein geeignetes Carillon, die Elektronik und die entsprechenden Studiotechniker nötig sind, um Vox veterrima aufzuführen. Eine vom Komponisten überarbeitete Fassung des Werkes erschien 2005 auf der DVD 50 Years Studio TU Berlin.