Acariciando lo áspero – Das Rauhe streicheln

Musik für Carillon und Elektronik in Berlin-Tiergarten 1988 - 2007

 

Von Jeffrey Bossin

 

    Seit dem Beginn meines Musikstudiums an der University of California at Riverside 1968 bildet zeitgenössische Musik einen der Schwerpunkte meines künstlerischen Schaffens. Ich nahm Kompositionsunterricht an der Universität und wirkte als Pianist in einem Ensembel für Neue Musik. Parallel dazu nahm ich Carillonunterricht bei Lowell Smith, der seinerzeit von Leen ´t Hart an der niederländischen Carillonschule in Amersfoort ausgebildet worden war. 1971 – 1972 verbrachte ich als Austauschstudent an der Reid School of Music der University of Edinburgh, Schottland und erhielt zum Schluß mein Bachelor-Diplom im Hauptfach Musik. Wegen seines Rufes als eines der europäischen Schauplätze von moderner Kultur und Musik siedelte ich anschließend nach West-Berlin über und nahm ein Studium der Musikwissenschaft bei Prof. Carl Dahlhaus an der Technischen Universität Berlin auf. 1984 legte ich mein Magisterdiplom ab, und gleich danach schlug ich dem Berliner Senat anläßlich der bevorstehenden 750-Jahr-Feier der Stadt den Bau eines Grand Carillons im Tiergarten vor, das dann 1987 fertiggestellt wurde[1].

      Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte spielte ich viele moderne Werke für Solocarillon und einige für Carillon und herkömmliche Musikinstrumente – darunter mehr als 40 Uraufführungen – und veranstaltete mehrere Konzerte mit Musik für Carillon und Elektronik[2]. Wegen meines Interesses für zeitgenössische Musik hatte ich während meines Studiums an der Technischen Universität Berlin auch einige Jahre in dessen elektronischem Studio gearbeitet, das direkt unter dem Institut für Musikwissenschaft lag.

Berlin spielte seit einiger Zeit eine wichtige Rolle in der Geschichte der elektronischen Musik. Bereits 1930 hatte Friedrich Trautwein, der einige Jahre später als Professor an der Hochschule für Musik in Berlin tätig war, einen Artikel über elektronische Musik veröffentlicht und das Trautonium gebaut, eines der ersten Musikinstrumente, die, wie die Ondes Martenot, Töne und Geräusche mittels elektrischer Spannungen erzeugten. In den folgenden Jahren schrieben bekannte Komponisten wie Paul Hindemith und Heinrich Genzmer Werke für Trautonium. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein elektronisches Studio an der Technischen Universität Berlin, die um die Ecke von der Hochschule für Musik lag, eingerichtet, und damals führende Komponisten wie Ernst Krenek und Boris Blacher experimentierten in dem Studio mit elektronischer Klangerzeugung und schufen elektronische Musik. Zwischen 1969 und 1970 arbeitete Karlheinz Stockhausen mit dem Studio der TU Berlin an der Entwicklung und dem Bau eines sphärenförmigen Konzertsaals für die Weltausstellung in Osaka zusammen, wo viele seiner Werke wie Kontakte, Hymnen, Stimmung, Kurzwellen und Spiral aufgeführt wurden.

    Einige Jahre nach meinem Umzug nach Berlin übernahm Folkmar Hein die Leitung des Studios, und während der folgenden Jahren baute er es zu einem der weltweit modernsten und vitalsten Zentren der elektronischen Musik aus, wo er zahlreiche Komponisten aus dem In- und Ausland, darunter vielen DAAD Stipendiaten, betreute. In der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre schloß ich mich eine Gruppe junger ehrgeiziger Berliner Komponisten an, die sich Klangwerkstatt nannte und unter Heins Führung im Studio arbeitete. Während dieser Zeit schuf ich einige eigene elektronische Stücke, die während Konzerte an der TU Berlin und der Akademie der Künste in Berlin und im Rahmen des internationalen Festivals für elektronische Musik in Bourges, Frankreich erklangen. Diese Arbeit gab ich jedoch auf, um mein Studium der Musikwissenschaft abzuschließen und anschließend das Carillon in Berlin-Tiergarten zu projektieren. Beim Bau des Turmes gewann ich Folkmar Hein als Akustiker, und er begeisterte sich für das ungewöhnliche Musikinstrument.

Nach der Fertigstellung 1987 wurde ich mit dessen Betreuung und Bespielung beauftragt, und Hein schlug gleich ein Konzert mit Carillon und Elektronik vor, das er im Rahmen einer Werkstatt Elektroakustischer Musik anläßlich Berlins Jahr als Kulturstadt Europas 1988 veranstaltete. Es wurde nur das erste einer langen Reihe solcher Konzerte, die zur Entstehung von mehreren neuen Werken für Carillon und Elektronik führten[3]. Es waren alle der dafür notwendigen Voraussetzungen vorhanden: ein Carillonneur, der sich für zeitgenössische Musik einsetzt und Erfahrung mit Elektronik hatte, ein elektronisches Studio dessen Leiter das Carillon gut kannte und schätzte, und ein großes Instrument von guter Qualität. Die Größe und der Standort des Carillons erwiesen sich ebenfalls als vorteilhaft. So bietet der große Umfang des Instruments von fünfeinhalb chromatischen Oktaven von F0 bis c6 ein breites Spektrum an Klängen. Dazu hängt es nur etwa 25 bis 40 Meter über dem Erdboden, also nicht allzuweit von den Lautsprechern, sodaß die Glocken mit der Elektronik räumlich gut zusammenklingen. Unerläßlich für ein erfolgreiches Konzert sind vor allem einige Tage warmes trockenes Wetter, da während Proben und Aufführungen die elektronischen Geräte, die bereits allein durch hohe Luftfeuchtigkeit beschädigt werden können, im Freien stehen. Weil die Konzerttermine Monate im voraus festgelegt werden müssen, war das Wetter stets eine Glückssache, besonders bei den gewöhnlich kühlen, feuchten und unbeständigen nordeuropäischen Sommern. Deshalb wurde oft auch ein Ausweichtermin für den Notfall vorgesehen. Waren jedoch die Geräte zum Turm gebracht und die Mittel für Transport und Versicherung dadurch einmal ausgegeben worden, war es aus finanziellen Gründen meistens nicht möglich, das Konzert, falls doch nötig, zu verschieben.

      Das erste Carillonkonzert mit Elektronik wurde bereits nur zehn Monate nach der Einweihung des Carillons veranstaltet. Damals ahnte keiner der Beteiligten, daß wir als erste Aufgabe die Aufführung des allerschwersten Werkes zu bewältigen hatten! Im Frühling 1988 beauftragte Folkmar Hein den argentinischen Komponisten Ricardo Mandolini ein neues Stück für das bevorstehende Konzert zu schreiben. Mandolini hatte in elektronischen Studios in Genf, Köln, Stockholm und Bourges gearbeitet und mehrere internationale Auszeichnungen für sein elektronisches Schaffen bekommen. Bereits 1978 war er DAAD Stipendiat in Berlin und hatte zwischen 1980 und 1986 in Zusammenarbeit mit Hein mehrere Stücke im Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin produziert. Ich führte ihm das neue Carillon vor und erläuterte dessen musikalische Besonderheiten, und während der folgenden Monate schuf er Vox veterrima, der uralte Ausruf, für Carillon, Elektronik, MIDI-Tastatur und Schlagzeuger. Die ersten beiden Aufführungen fanden am 20. und 21. August 1988 statt im Rahmen von zwei Konzerten mit dem Titel Avantgarde auf dem Carillon. Vox veterrima basiert in erster Linie auf elektronisch verarbeiteten Glockenklängen. Die Mitarbeiter des Studios machten Aufnahmen von den meisten Glocken des Carillons mitten in der Nacht, um die Umweltgeräusche auf ein Minimum zu reduzieren (obwohl der Turm in einer parkähnlichen Anlage neben dem Tiergarten steht, hatten die Techniker trotzdem ständig gegen bellende Hunde, zwitschernde Vögel, lautstarke Passanten und vorbeifahrende Autos und Motorräder zu kämpfen). Im elektronischen Studio ersetzte Mandolini mit Hilfe eines Samplers fehlende oder mißlungene Aufnahmen durch Transpositionen der gut gewordenen. Er benutzte diese Reihe von allen 68 Tönen des Carillons um Motiven auf einem Synklavier zu spielen oder um Geräusche zu erzeugen und schuf mit ihnen drei verschiedene elektronische Tracks. Mit Ausnahme von einigen Pausen laufen sie während der gesamten Aufführung und werden von dem Carillonneur und zwei weiteren Stimmen begleitet, die ursprünglich ein Pianist und vier Schlagzeuger spielten. Mittels einer MIDI-Tastatur steuerte der Pianist die Hämmer auf der Außenseite der Glocken der Automatik (c2 bis c4), und die Schlagzeuger hämmerten auf der Außenseite mehrerer ausgewählter Glocken. Während der Uraufführung im August 1988 spielte ich das Carillon und Mandolini die MIDI-Tastatur während Hein die Elektronik steuerte und vier Studenten als Schlagzeuger wirkten. Die Elektronik war aus drei großen Lautsprechern zu hören, wobei je einer links und rechts vom Turm und der dritte auf derselben Seite und in 20 Meter Höhe im Turm platziert waren. Die Bewegungen der Elektronik von einem Lautsprecher zum anderen erzeugte beeindrückende Raumklänge.

      Vox veterrima besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste dauert ungefähr dreizehn Minuten und umfaßt die Abschnitte Initia nascendi (Elemente der Entstehung, der Geburt), Ignis ingens (gewaltiges Feuer), Divinum testimonium (göttliches Zeugnis), Praeconium (Verkündigung, Verherrlichung), Concilia populi (Volksversammlung), Intuitio tenebris (düstere Vorahnung) und Calamitas bellum (Kriegsniederlage, Kriegeskatastrophe). Der zweite Teil dauert rund dreieinhalb Minuten und besteht aus den zwei Abschnitten Novum mysterium (neues Geheimnis) und Aestus minantes (drohende Gluten, Fluten, Leidenschaften). Die Form des Werkes ist sorgfältig strukturiert und hat mehrere dynamische Höhepunkte. Der Komponist verwendet verschiedene Kombinationen von elektronischen und instrumentalerzeugten Klängen und Geräuschen, um eine Reihe von originellen und phantasievollen Texturen zu schaffen. Die einzelnen Elemente - Arpeggien, Arabesken, Kadenzen, Tonrepetitionen, Tremoli, Akkorde und die aus ihnen entwickelten  Motive – werden exponiert und in bestimmmten Abständen wiederholt, variiert und weiterentwickelt. Das Werk beginnt mit einem zarten Dialog aus Arabesken und wiederholten Tönen, die sowohl elektronisch als auch auf dem Carillon in höchster Lage erklingen. Während des nächsten Abschnitts Ignis ingens wird der Klangraum allmählich nach unten erweitert, und das erste Hauptmotiv – der wiederholte Akkord a1-c2-as2-c3 – ist an drei verschiedenen Stellen im Carillon zu hören. Praeconium beginnt mit zwei Carillon-Arabesken, denselben, womit sowohl die Elektronik als auch das Carillon am Anfang des Stückes einsetzen. In Concilia populi erklingen zwei weitere Hauptmotive: die Carillon-Arpeggien dis1-h1-des2-ges2-b2-d3 am Anfang und der Elektronik-Akkord Cis-cis-f-a-c1-e1 etwa eine Minute danach. In der Mitte vom Intuitio tenebris kehrt das erste Hauptmotiv zurück, diesmal als eine Figur, die sich aus einer Viertel-, einer punktierten Viertel-, einer Achtel- und zwei Viertelnoten in der Elektronik zusammensetzt[4]. Am Ende von Calamitas bellum ertönt es auf den tiefsten Glocken des Carillons und schließt den ersten Hauptteil des Stückes. Vox veterrima endet mit einem vierten Hauptmotiv, einer Reihe von Akkorden, die ständig und immer lauter bis zum dreifachen Forte wiederholt werden. Eine Variante des ersten Hauptmotivs, gespielt vom Carillon und von der MIDI-Stimme, beendet das Werk. Die gewaltige Spannung wird durch eine elektronische Kandenz gelöst, ein Riesenglissando, das das Stück in die Tiefe reißt.

    Vox veterrima ist eine schöne und beeindruckende Komposition. Obwohl Mandolini vorher keine Erfahrungen mit dem Carillon gesammelt hatte, gelang es ihm auf genialer Art und Weise sowohl den Klang des Instruments mit der Elektronik zu verbinden als auch traditionelles kompositorisches Denken (z. B. in Form von leicht erkennbaren, wiederholten Motiven und Elementen), eine phantasievolle Gestaltung der Elektronik und eine aus dem Klang und der Spieltechnik des Instruments abgeleitete Carillonstimme, meisterhaft miteinander zu kombinieren. Die Elektronik besteht aus sich bewegenden und entwickelnden Klängen, aus denen man

 



[1] Ein Grand Carillon hat mindestens 53 Glocken, einen Bourdon mit dem Schlagton A° oder tiefer und eine Pedalklaviatur, die sich vom großen G bis mindestens a1 erstreckt. Ausführliche Informationen über das Grand Carillon in Berlin-Tiergarten und seine Entstehung stehen in Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam, Berlin 1991.

[2] Die Kompositionen für Solocarillon und für Carillon und herkömmliche Musikinstrumente sind Thema des Artikels Jeffrey Bossin:  Looking into Clouds: Two Decades of New Music for the Carillon in Berlin-Tiergarten. Gdánsk XV World Carillon Congress (2007), Gdánsk, Polen.

[3] Dieser Artikel ist Folkmar Hein gewidmet, dessen Unterstützung, Mitarbeit und Begeisterung die Veranstaltung dieser Konzerte ermöglichten. Mein Dank gilt ebenfalls der Initiative Neue Musik Berlin e. V., die die Konzerte 1995, 2001, 2203, 2005 und 2007 förderte.

[4] Ursprünglich erschien diese rhythmische Variante des ersten Hauptmotivs bereits in dem Abschnitt Concilia populi etwa eine Minute nach dem Elektronikakkord. Dort war es ein drittes Motiv in Form des MIDI-Akkords c1-d1-g1-h1-cis2-dis2-fis2-ais2, der auf den großen Terzen g-h und fis-ais basierte. Mandolini tilgte es zusammen mit jenem Teil der MIDI-Stimme während seiner Überarbeitung des Stückes 2005.

 

© Jeffrey Bossin