Musik für Carillon 1600 - 1900

Die Suche nach einem verschollenen Repertoire

Von Jeffery Bossin

 

            Das Carillon ist eine besondere Art von Turmglockenspiel mit einem gewöhnlichen Umfang von zwei bis vier chromatischen Oktaven. Der Carillonneur sitzt auf einer Bank, schlägt die einzelnen Tastenstöcke des Spieltisches mit einer geballten Faust nieder oder greift mit einer gespreizten Hand Intervalle bis zu einer Quarte und tritt mit den Füßen auf die Pedale. Tastenstöcke und Pedale sind durch Seilzüge mit den Glockenklöppeln verbunden. Die rein mechanische Traktur des Instruments ermöglicht es dem Carillonneur, die Stärke seines Anschlags zu kontrollieren und mit Ausdruck zu spielen.

            Das Carillon entwickelte sich im Mittelalter aus kleinen Turmglockenspielen, die die Kirchen, Belfriede und Rathäuser der Niederlande, Flandern und Nordostfrankreich zierten. Im 16.Jahrhundert umfassten diese Instrumente oft zwei diatonische Oktaven mit zwei b-Glocken und einer fº-Glocke; zusätzliche chromatische Töne kamen allmählich hinzu. Die ersten Spieltische mit Tastenstöcken wurden Anfang des 16. Jahrhunderts gebaut und rund hundert Jahre später mit den ersten Pedalklaviaturen ausgestattet. 1644 siedelten sich die Wandergießer François und Pieter Hemony aus Lothringen in den Niederlanden an, wo sie mit Hilfe des blinden Utrechter Carillonneurs und Flötisten Jacob van Eyck als erste lernten, die wichtigsten Teiltöne ihrer Glocken mit großer Genauigkeit zu stimmen. Sie installierten die ersten chromatischen Instrumente und gossen über vierzig mitteltöniggestimmte Carillons für die Städte Flanderns und der Niederlande, darunter fünf für Amsterdam, je zwei für Antwerpen, Gent, Rotterdam und Utrecht sowie je eins für Brüssel, Mecheln und Ostende. Aufträge für Hemony-Carillons und -Glockenspiele kamen auch aus Darmstadt, Hamburg, Mainz und Stockholm. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lieferten die flämischen Gießer Joris Dumery, Melchior de Haze, Andreas Jozef van den Gheyn und Willem Witlockx, die niederländischen Johann Nicolaas Derck, Claude Fremy und Claes Noorden und Jan Albert de Grave und die französischen Bernard, Le Corsin und Vandaele weitere Carillons für viele Städte Flanderns, der Niederlande und Nordostfrankreichs sowie für Berlin, Danzig, Kopenhagen, Potsdam, Prag, Riga und Sankt Petersburg.

            Die Carillonneure musizierten gewöhnlich drei- bis viermal in der Woche jeweils eine halbe bis eine Stunde sowie an nationalen und örtlichen Festtagen. Laut seines Vertrages von 1745 war Matthias Vanden Gheyn verpflichtet, bei allen Gottesdiensten und an Markttagen zu spielen, sowie für die Festumzüge der Stadtgilden und der Löwener Universität. Und doch sind aus der Zeit vor 1900 gegenwärtig nur neun Quellen mit Noten für Carillon und fünf weitere mit Musik für die automatischen Vorrichtungen der Instrumente bekannt.[i] Aufeinandergelegt bilden sie zwei niedrige Stapel. Die Manuskripte wurden meistens nicht veröffentlicht sondern blieben in privater Hand oder gelangten auf Umwegen in Archive und Bibliotheken. Wie groß war der ursprüngliche Bestand, wieviel davon ging verloren, wo befindet sich der Rest? Welche Art von Werken waren es?  

            Wie im Falle der Musik für andere Tasteninstrumente waren die ersten Stücke, die auf den Carillons erklangen, ursprünglich für andere Instrumente oder Stimme gedacht. In der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts wird berichtet, daß der Carillonneur an der Antwerpener Kathedrale aus einem Buch mit Madrigalen vortrug, 1655 erschien in Nijmegen eine Sammlung von Psalmen, Tanzstücken, Airs und Intraden usw., die laut ihres Titels mit ein oder zwei Violinen, Cornetten, Schalmeien, auf Glocken oder mit anderen Musikinstrumenten zu spielen waren.[ii] Während jedoch Komponisten im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ein Repertoire von Originalwerken für Cembalo und Orgel schufen, arbeiteten die Carillonneure weiterhin mit Bearbeitungen. Allerdings entwickelten sie einen idiomatischen zweistimmigen Satz aus Baß und Sopran, der auf den Eigenarten des Carillonspieltisches und -klangs und ihrer Spieltechnik basierte. Der Umfang der Baßstimme entsprach dem der damaligen Pedalklaviaturen und war meistens auf die Dezime c bis e1 ohne tiefes cº und dº beschränkt.[iii] Dieses für die übrige Tastenmusik atypische Merkmal ist einer der wichtigsten Hinweise auf Carillonnoten. (Auch die Sopranstimme war in der Tiefe und Höhe beschränkt!) Da die Carillonmusik des 18. und 19. Jahrhunderts wie die nicht kontrapunktischen Klavierstücke dieser Zeit aus übergeordneter Zweistimmigkeit besteht - das heißt Baß und Sopran haben je eine feste Funktion als Träger des harmonische Gerüsts bzw. der Melodik -, schreitet die Baßstimme wegen des lauten Klanges und langen Nachhalls der grossen Glocken sowie wegen der schwerfälligen Trakturen gewöhnlich in Halben und Vierteln fort, um die Melodiestimme nicht zu übertönen.[iv] (Aber Choral wird auch im Baß gespielt - von Fischer empfohlen, damit der Baß die Melodie nicht übertönt). Allerdings kommen bei den anspruchsvolleren Stücken auch Läufe, Arpeggien und andere Figuren in Achteln in der Unterstimme vor. Die Noten sind auf zwei Systeme(n?) geschrieben, wobei die des oberen auf den Tastenstöcken und die des unteren auf den Pedalen gespielt werden.

            Die bisher einzigen bekannten Noten für Glocken aus der Zeit vor 1700 sind zwei Versteckbücher, das heißt Sammlungen von Stücken, die auf die Walze der automatischen Glockenspiele gesetzt wurden und 1648 in Brüssel und zwischen 1662 und 1693 in Gent entstanden. Sie vermitteln ein Bild von dem damals bevorzugten Carillonrepertoire, verraten aber nichts über die Spielpraxis.[v] Diese läßt sich eher aus den zwei Sammlungen von Flötenstücken mit dem Titel Der Fluyten Lusthof  ablesen, die der Flötist und Carillonneur von Utrecht Jacob van Eyck 1644 und 1646 in Amsterdam veröffentlichte. Auf jede der Melodien und Tanzlieder folgt mindestens eine diminuierte Variation, die deren Tongerüste mit Spielfiguren in kleineren Notenwerten ausschmückt. Auf jede der Melodien und Tanzlieder folgt mindestens eine diminuierte Variation, die deren Tongerüste mit Spielfiguren in kleineren Notenwerten ausschmückt, und es ist anzunehmen, daß Van Eyck seine Carillonstücke auf ähnliche Weise und mit einem dazu passenden Baß vortrug. Der blinde Van Eyck spielte und diktierte diese Flötenstücke aus dem Gedächtnis und wird sie mit einem passenden Baß auch auf dem Carillon vorgetragen haben. Das bisher älteste erhaltene Notenbuch für das Handspiel, Beyaert 1728 , enthält ein Beispiel von dieser in der damaligen Instrumental- und Vokalmusik weitverbreiteten Diminutionspraxis: das Lied Herders comt als naer den Stal  hat eine Variation, die die Melodie in Sechzehntelfiguren auflöst.[vi] Diese Sammlung stammt von Theodoor Joannes Everaerts, der von 1719 bis 1739 Carillonneur an der Antwerpener Kathedrale war. Everaerts' Notenbuch war eine praktische Hilfe, die die gebräuchlichsten der damals beliebten Weihnachts- und Hirtenlieder, die sogenannten Cantiones Natalitiae, in einem Heft vereinte. 1723 wurde berichtet, daß er die Folies d'Espagne  auf dem Carillon spielte. Hat er auch verschollene Bände mit Bearbeitungen von Tanzstücken und Instrumentalwerken geschrieben?

            Joannes de Gruytters, der 1740 Everaerts' Nachfolger wurde, stellte zwischen 1743 und 1746 ein solches Heft zusammen, das den Einfluß der französischen und italienischen Instrumentalmusik widerspiegelt.[vii] Es umfaßt 188 nummerierte Werke: Tänze - darunter 81 Menuette -, mehrere Märsche und Andantes, zwei Sonaten und das Violinkonzert op. 3 Nr. 3 aus L'estro armonico von Antonio Vivaldi. Die Vokalmusik, die in den Versteckbüchern von Brüssel und Gent und den Sammlungen von van Eyck und Everaerts vorherrschte, tritt nun in den Hintergrund. Dreizehn Werke tragen die Namen renommierter Komponisten wie Corelli, Couperin, Händel, Locatelli, Lully und Richter, knapp ein Viertel stammen von lokalen aber hoch beachteten Musikern wie Joseph Hector Fiocco, Willem de Fesch und Dieudonné Raick, die fast alle eine Zeit lang an der Antwerpener Kathedrale wirkten. Die meisten der Tänze, Airs und Märsche sind in einem schlichten Stil geschrieben, andere Stücke haben rhythmisch stark differenzierte Sätze mit Albertifiguren und Murkis im Diskant und mit schnellen Läufen, Arpeggien und Sechzehnteltriolen, die hohe Anforderungen an den Carillonneur stellen. Bei den Allegros zeugen sie vom Einfluß der neuen italienischen Instrumentalvirtuosität, die sich seit 1700 über Europa ausbreitete. Die noch heute beliebte Gavotte und das diminuierende Double des niederländischen Violinvirtuosen Willem de Fesch gleichen einem brillanten Violinsolo mit Continuobegleitung; solche Schaustücke für Geiger waren bis in die 1770er Jahre in Europa weitverbreitet. Die Andantes mit ihren Verzierungen, Vorhalten und ausgeschmückten Melodien sind in dem aufkommenden galanten Stil gehalten, und die Übertragungen von François Couperins Les Bergeries und Les Vendangeuses  belegen de Gruytters' Interesse für die französische Klaviermusik.

            Warum hielt de Gruytters seine Bearbeitung in schriftlicher Form fest? Seine sorgfältig ausgearbeiteten Vorlagen spiegeln das hohe Niveau der Musik an der Antwerpener Kathedrale, wo er auch als Organist und Geiger tätig war, und seine Versuche, die Carillonbespielungen durch anspruchsvolle Literatur aufzuwerten, wider. Aber warum is nur das eine Buch von ihm bekannt? Fanden seine Bemühungen nur wenig Widerhall, so daß er anfing, dieselben Stücke zu wiederholen oder einfachere Fassungen der neuen prima vista zu spielen? Oder sind die späteren Bearbeitungen verschollen?

            Ein weiteres Heft mit 151 verschiedenen Stücken entstand zwischen 1755 und 1760 in Löwen in den damals österreichischen Niederlanden.[viii] Wie de Gruytters' Carillonbuch besteht es hauptsächlich aus Menuetten und Märschen; einige Tänze und Bearbeitungen von Cembalostücken, darunter Couperins Les Bergeries und Le Réveil-Matin  sowie eine Anzahl Weihnachtslieder und diverser Arien und Lieder kommen hinzu. Im Gegensatz zum urbanen Charakter der Antwerpener Sammlung spiegelt das Löwener Heft das Leben einer Provinzstadt wider: neben Liedern und Märschen der lokalen Gilden und Vereinen und Musik für Festumzüge enthält es Studenten- und Lobgesänge auf diversen von der Löwener Universtität ausgezeichneten Absolventen. Nur ein paar Werke sind von renommierten Komponisten. Einige stammen von lokalen Musikern, die meisten sind jedoch anonym. Die Auswahl der Titel richtet sich nach einem konservativeren Musikgeschmack als bei de Gruytters' Carillonbuch. Statt Andantes im neuen galanten Stil wurden Variationen über das altbekannte Lied Cecilia und die Folies d'Espagne in das Heft aufgenommen. Die althergebrachte Diminution verwendet jedoch Alberti-Figuren, Murkis, Arpeggien usw., die zum neuen virtuosen Instrumentalstil gehörten aber teilweise auch auf dem Carillon gut auszuführen waren und durch Carillonbearbeitungen bekannt waren. In jeder Variation verselbständigt sich eine dieser Figuren und bildet eine instrumentale Abwandlung der Melodie, die einer kleinen abstrakten Carillonkomposition ähnelt, wie sie dann in Form des achttaktigen, aus Albertifiguren geschaffenen Präludiums Nr. 12 tatsächlich vorkommt. Die Bedeutung des Löwener Carillonhefts liegt in der Weise, wie es diesen Übergang von der Bearbeitung fremder Vorlagen zur Entstehung der ersten Originalwerke für Carillon andeutet.



[i]Anmerkungen

 

[i] Außer den in diesem Artikel besprochenen Kompositionen gibt es noch sechs Märsche, die vermutlich von dem Aalster Carillonneur Boudewijn Schepers Mitte des 18. Jahrhunderts für Carillon bearbeitet wurden, und sechs kleine Carillonstücke von Johan Waagenaar I., Carillonneur in Utrechter von 1869 bis 1894, sowie ein Versteckbuch von dem Antwerpener Carillonneur Joannes de Gruytters und seinem Sohn und Nachfolger.

[ii] Die Stücke waren offensichtlich auch als Turmmusik gedacht. Um diese Zeit beschäftigte die flämische Stadt Gent je sechs Trompeter und Schalmeispieler als Turmmusiker und -wächter, die ihren Platz neben dem Carillon im Belfried hatten. Die Sammlung ist verschollen.

[iii] Im 17. Jahrhundert empfahl Pieter Hemony den Verzicht auf die teueren Glocken für die damals selten benutzten tiefe cº- und dº-Pedale. Vgl. Hemony, Pieter: De on-noodsakelijkheid en ondienstigheid van cis en dis in de bassen der klokken, [Faksimiledruck der Ausgabe Delft 1678], Amsterdam 1927 und Asten 1964. Andere Klavier bis a oder b.

[iv] Bereits 1738 wies der Utrechter Carillonneur Jan Philip Albert Fischer darauf hin, daß "die Melodie in der obersten Stimme muß deutlich verstanden werden können", und daß wenn "eine von den tiefsten acht oder neun Glocken angeschlagen werden, man wenig oder nichts von der Melodie hören kann..." Fischer, Johan Philip Albrecht:Verhandeling van de klokken en het klokke-spel [Faksimiledruck der Ausgabe Utrecht 1738, Eijsbouts Klokkengieterij (Hrsg.)] Asten 1956, S.24. Viele Carillonneure lösten dieses Problem, indem sie manchmal die Melodien, besonders von geistlichen Liedern, im Baß spielten.

[v] Hymnes et Chansons, arrangées par Théodore de Sany, pour le Carillon de Bruxelles, en 1648 und Den Boeck Van Myn E:D: Heeren Schepenen Vander Keure Dienende tot den Voorslach van der clocke van Ghendt gemaeckt en gheschreven door P.F. Phil Wyckaert Predicheer 1681. Der Pater und Komponist Philippus Wyckaert, der das Genter Versteckbuch schrieb, spielte Orgel aber kein Carillon.

[vi] Beyaert 1728  wurde als Teil von Jaarboek van het vlaams centrum voor oude muziek, 1.Jhg., o.O. 1985 veröffentlicht. "Beyaert" ist die alte Schreibweise von "beiaard", dem niederländischen Wort für Carillon. Da die Antwerpener Kathedrale gleich zwei Hemony-Instrumente hatte, von denen jeweils eines der Stadt und eines der Kirche gehörte, bekleidete Everaerts den doppelten Posten des Stadt- und Kathedralencarillonneurs

[vii] Andanten, marchen, gavotte, ariaen, giuen, corenten, contre=dansen, allegros, preludies, menuetten, trioen, &.&. voor den beyaert ofte klok=spil by een vergaedert ende opgestelt door my Ioannes de gruytters, beyart ofte klok=spilder der stadt ende Chatedraele tot Antwerpen 1746, [Faksimiledruck], Eijsbouts Klokkengieterij (Hrsg.), Asten 1968.  

[viii] Es gibt auch ein zweites undatiertes Buch mit vielen Stücken aus dem ersten und fünf weiteren. Eine Faksimile-Ausgabe der insgesamt 156 verschiedenen Werken erschien unter dem Titel Het Liedeken van de Lovenaers  1990 im Verlag der Löwener Universität.


© Jeffrey Bossin