Das Grand Carillon
Die Geschichte eines nordamerikanischen Glockengiganten - Teil I

 

Von Jeffrey Bossin

 

    1925 stiftete der amerikanische Millionär John D. Rockefeller Jr. ein Carillon für den Turm der Park Avenue Baptist Church in der Stadt New York. Ein Carillon? Bis 1922 gab es ein einziges Instrument mit einem herkömmlichen Stockspieltisch in Nordamerika. Die 25 Glocken für die Holy Trinity Church in Philadelphia, Pennsylvania, stammten aus der Werkstatt des belgischen Gieflers Severinus van Aerschodt, der sie 1883 geliefert hatte. Ansonsten war das Carillon in der Neuen Welt bis 1922 noch völlig unbekannt.1 Dann wurden bis 1941 auf einmal 51 von den Instrumenten in Kanada und den USA gebaut, zehn davon alleine in den vier Jahren 1922 bis 1925. Woher stammte dieses starke Interesse und warum entstand es so plötzlich? Das ungewöhnliche Zusammentreffen von drei Faktoren war dafür verantwortlich: die Begeisterung eines Amerikaners für das europäische Instrument, das Wetteifern zweier konkurrierender Glockengieflereien und - horribile dictu - ein Krieg.
    Der Mann hieß William Gorham Rice. Der Amerikaner hatte sich auf seinen Reisen durch Holland und Belgien vom Carillon faszinieren lassen und seit 1911 zahlreiche Türme besucht und Instrumente besichtigt. Er wurde ein glühender Anhänger von der Carillonkunst und deren führendem Exponenten, dem renommierten belgischen Carillonneur Jef Denyn.
    Rices Bücher Carillons of Belgium and Holland, The Carillon in Literature und Carillon Music and Singing Towers of the Old World and the New, seine Artikel in den beliebten Zeitschriften The Musical Quarterly, Art and Archeology und National Geographic, seine vielen Vorträge und die Ausstellung über das Carillon, die er für das Smithsonian Institut in Washington D.C. organisierte, machten immer mehr seiner Landsleute mit dem Carillon über mehrere Jahre hinweg bekannt.2 Die schönen Abbildungen und Beschreibungen von dem exotischen Musikinstrument in den hochragenden Türmen der verträumten niederländischen und belgischen Städten sprachen die Menschen sehr an.
    Gerade als sein erstes Buch erschien, brach der Weltkrieg aus. Die heftigsten Kämpfe tobten in Belgien und Nordostfrankreich. Die Allierten und die angelsächsische Welt richteten die Augen auf dieses Gebiet, das zugleich die Wiege des Carillons ist. So war es kein Zufall, daß ein Carillonkonzert von Jef Denyn zum Programm des Staatsbesuches gehörte, den der amerikanische Präsident Woodrow Wilson zusammen mit mehreren Senatoren nach dem Krieg in Belgien 1919 unternahm. Die Amerikaner gründeten die Commission for the Relief of Belgium, um beim Wiederaufbau des verwüsteten Landes finanzielle Hilfe zu leisten. Hochstehende Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft beteiligten sich daran. Viele von ihnen hatten auch Umgang mit Rice durch seine Stellung als Sekretär von zwei Gouverneuren des Bundesstaates New York und als Kommissar im Dienste der US Regierung 1895-1898 und des Bundesstaates New York 1915-1937. Ihm gelang es, die Neugier dieser Menschen für das Carillon zu wecken, und das Carillon wurde plötzlich ein beliebtes Stiftungsobjekt der Wohlhabenden der Neuen Welt.
    Seit kurzem waren zwei englische Glockengießereien erstmals in der Lage die rege Nachfrage nach Instrumenten zu befriedigen. John Taylor and Company hatte mit Hilfe der Forschung von dem Kanoniker Arthur Simpson auf dem Gebiet des Glockenstimmens mit der Herstellung von Carillons um die Jahrhundertwende begonnen. 1921 folgte die Firma Gillett & Johnston, vertreten durch Cyril Johnston. Diese war 1844 als Turmuhrfabrikant gegründet worden und hatte 1877 mit dem Glockengufl und um 1906 mit dem Stimmen nach Simpsons Erkenntnissen angefangen. Beide Gießer boten ihren Kunden nun nicht nur Geläute sondern auch Carillons an. Nach Ende des Ersten Weltkrieges stellte das aufwendige Musikinstrument für viele Menschen eine Möglichkeit dar, den Gefallenen ein grofles, würdiges aber vor allem auch lebensbejahendes Denkmal zu setzen. Der Ruf nach einem Gedenkcarillon wurde an mehreren Orten in den angelsächsischen Ländern laut. 1923 gofl Taylor seine ersten beiden für die Mostyn House School in Parkgate, England und die Philips Academy in Andover, Massachusetts. Sie sind dem Andenken der gefallenen Absolventen gewidmet. Ein drittes, diesmal für einen freistehenden Turm in Queens Park, Loughborough, England, wurde 1924 gebaut. Bald folgten noch weitere dieser sogenannten War Memorial Carillons:

 

1925 Norfolk War Memorial, Simcoe, Kanada

1927 Toronto University Soldiers' Tower, Toronto, Kanada

          Peace Tower des Parlamentsgebäudes, Ottawa, Kanada

1928 Mayo Klinik, Rochester, Minnesota, USA

         Memorial Building, Norwood, Massachusetts, USA                        

         Universität von Sydney, Sydney, Australien

         Bibliothek der Katholischen Universität, Löwen, Belgien

1932 Byrd Park, Richmond, Virginia, USA

         National War Memorial, Wellington, Neuseeland

 

Darüberhinaus schenkten viele vermögenden Bürger Kirchen, Schulen und Universitäten Instrumente, oft im Andenken an verstorbene Familienmitglieder.3 Die Tatsache, daß der amerikanische Präsident Calvin Coolidge Konzerte auf dem Carillon von Cohasset, Massachusetts, 1923 und 1925 besuchte, zeigt, welche Bedeutung dem Instrument in der damaligen Gesellschaft beigemessen wurde.4

 

Das erste Grand Carillon: das Kind eines Millionärs

     Auch der Großindustrielle John D. Rockefeller Jr. erlag der Faszination für das neuentdeckte Glockeninstrument und entschlofl sich, der Park Avenue Baptist Church in der Stadt New York ein Carillon zu schenken. Die ersten Pläne datieren aus dem Jahr 1921. Rockefeller beauftragte den Organisten Frederick Mayer, der die Anfertigung des zwölfstimmigen Glockenspiels für die renommierte West Point Military Academy überwacht hatte, mit dem Entwurf des Instruments. Drei Tage nach der Einweihung des ersten der modernen englischen Carillons für die USA im Juli 1922 eilte Rockefeller nach Gloucester, Massachusetts. Dort besichtigte er das neue Taylor-Instrument und liefl sich ein Privatkonzert darauf geben. Zwei Monate später stiftete er $500 für den Ankauf zusätzlicher Glocken für dieses Carillon. Er stellte auch ein Komitee zusammen, das der Frage nach dem geeignetesten Giefler für sein eigenes Instrument nachging. Das Gremium empfahl die 1870 gegründete Meneely Bell Company in Troy, New York, die zwar keine Carillons aber dafür zahlreiche Glockenspiele mit meistens acht bis zwölf Stimmen gebaut hatte. Doch der Preis erschien Rockefeller zu hoch, und Meneely weigerte sich darüber zu verhandeln. Rockefeller wandte sich an die englischen Gießer, die ihm wegen ihrer billigeren Arbeitskräfte ein niedrigeres Angebot machen konnten. Er führte Gespräche mit Taylor, und dieser schlug ihm ein Carillon mit 35 Glocken vor. 1923 besuchte er die Gillett & Johnston Giesserei. Diese unterbot Taylor und bekam den Auftrag, zunächst für ein Carillon mit 42 Glocken.5
    Schon Ende Juni 1924 goß die Werkstatt eine der großen Glocken. In dieser Zeit wurde die Stadt New York von mehreren kleinen und mittelgroflen Instrumenten allmählich eingekreist: das von Plainfield, New Jersey, hatte 23, Andover und Gloucester, Massachusetts, 30 bzw. 31 und Morristown, New Jersey, 35 Glocken. Bald erfuhren Rockefeller und Mayer, daß Gillett & Johnston dabei waren, ihr Carillon in Cohasset, Massachusetts, auf 43 Stimmen zu erweitern. Damit würde es genauso groß wie Rockefellers werden. Das war dem ehrgeizigen Mayer nicht recht, und er stachelte Rockefeller dazu an, ein noch größeres Carillon bauen zu lassen. Dieser nahm den Vorschlag bereitwillig an. Als einer der reichsten und prominentesten Unternehmer der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit legte er grossen Wert darauf, sich entsprechend zu repräsentieren. In einem Land mit den höchsten Wolkenkratzern, gröflten Schiffen und längsten Brücken sollte sein Carillon das größte und schwerste der Welt werden. Der wagemutige, experimentierfreudige Giefler Cyril Johnston - ein Fantast, der ein uneheliches Kind zeugte und trotzdem Persönlichkeiten aus den höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft zu sich in die Gieflerei einlud - vervollständigte das Dreiergespann, das den byzantinischen Streitwagen im Wettrennen um ein Monstercarillon erfolgreich ziehen würde. Aber quo vadis?
    Der Wegweiser stand in Belgien. Johnston hatte bereits enge Beziehungen zur belgischen Carillonwelt geknüpft. Im August 1922 besuchte er den ersten internationalen Carillonkongreß in Mecheln, wo Jef Denyn seine neuen Carillonschule gerade eröffnet hatte. Johnston war mit Denyn eng befreundet und lud ihn mehrmals ein, die neuen Instrumente einzuspielen, die er in seiner Gieflerei zusammengebaut hatte. Seine Schwester Nora studierte später Carillon bei Denyn und erhielt ihr Diplom von der Mechelner Carillonschule 1933.
    Johnston kannte nicht nur die führenden Persönlichkeiten der belgischen Carillonwelt, sondern auch die wichtigen Instrumente des Landes. Das Carillon von Gent war mit 52 das größte, das Instrument von Mecheln mit 44 Glocken und einem Gesamtgewicht von 37 Tonnen das damals schwerste Carillon Belgiens.6 Dessen 8,9 Tonnen schwerer fis0-Bourdon war am Spieltisch als großes B angekoppelt, was dem Instrument einen besonders tiefen und starken Klang verlieh.
    Um Rockefellers Wunsch nach dem gröflten und schwersten Carillon der Welt nachzukommen, schuf Johnston ein Instrument mit 53 Glocken, einem 9,4 Tonnen schweren e∞-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 49,5 Tonnen. Wäre dieser Bourdon wie sonst üblich am Spieltisch als kleines c oder wie in Mecheln als grofles B angekoppelt, so hätte das Carillon eine verminderte Quinte oder gar kleine Sexte tiefer transponiert.7 Es wurde jedoch bis dahin noch nie ein Carillon auf dieser Weise eingerichtet, weil dadurch die ersten beiden Oktaven des Instruments übertrieben tief geklungen hätten und die Traktur zu schwerfällig und träge geworden wär.8
    Johnston und Mayer suchten nach einer Alternative. Das Carillon von Gent bot ihnen eine brauchbare Lösung des Problems und diente wahrscheinlich als Vorbild für Rockefellers Instrument. Es stammte von Pieter Hemony, der 1659 ein Carillon mit den 37 Glocken c1-d-e- d4 für den Bergfried von Gent gegossen hatte. Die Schöffen der Stadt waren damals von dem neuen Instrument derart begeistert, dafl sie drei zusätzliche Glocken mit den Tönen g0, a0  und h0 bestellten. Der Bourdon wurde am Spieltisch als grofles G angekoppelt und die Pedalklaviatur begann nicht wie üblich mit dem kleinen c sondern mit der Halboktave grofles G-A-H.9 Im Laufe des folgenden Jahrhunderts wurden die Glocken für die kleinen cis- und dis-Pedale hinzugefügt und am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Umfang des Carillons bis zum c4-Tastenstock erweitert.
    Um seinen Auftrag für Rockefeller zu erfüllen, brauchte Johnston nur ein Instrument von derselben Größe wie das Genter Carillon anzufertigen und es mit dem fehlenden groflen B-Pedal und einem Bourdon, der schwerer als der des Mechelner Instruments war, auszustatten. Es entstand ein Carillon mit 53 Glocken, viereinhalb Oktaven, einem 9,4 Tonnen schweren e0-Bourdon, einem Gesamtgewicht von 51 Tonnen und einer Pedalklaviatur mit dem Umfang großes G-A- c2. Es kombinierte den erweiterten Bafl des Genter Carillons mit dem schweren Klang des Mechelner Instruments und transponierte wie jenes ebenfalls eine Terz tiefer. Die gängige Pedalklaviatur wurde sowohl eine halbe Oktave nach unten als auch nach oben vergrößert - möglicherweise, um die Tastatur und die Pedalklaviatur an ungefähr der gleichen Stelle rechtsbündig abschlieflen zu lassen.10
    Genau zu der Zeit, als das New Yorker Instrument fertig war, benützte Taylor einen neuen Namen für diese besondere Art von Carillon, und zwar bezogen auf das Instrument, welches er gerade für die Universität von Sydney projektierte. Er nannte es ein "grand carillon". Vermutlich sollte Taylor diese Art von großem Carillon mit einem Konzertflügel, auf Englisch als grand piano bezeichnet, verglichen haben. Wie ein grand piano ist ein grand carillon ein Tasteninstrument mit einem besonders großen Klangvolumen und stark ausgeprägten Bassbereich. Der Begriff wurde von den englischen Gieflern verwendet, um Carillons mit einem besonders schweren Bourdon zu beschreiben, d.h. mit einem Gewicht von zehn oder mehr Tonnen.11 Bei diesen Carillons war der Bourdon als großes F oder G am Spieltisch angekoppelt, damit das Instrument nicht mehr als eine Terz oder Quarte tiefer transponierte und nicht übertrieben schwerfällig klang. Außerdem bedeutet grand so viel wie grandios, feierlich und großartig. Über das Carillon mit einem es0-Bourdon für Sydney schrieb Taylor ...we can see nothing at all...that will prevent us making the Carillon a grand success.12 Im selben Brief an die Universität hieß es weiter There is not the slightest doubt, therefore, that you can safely proceed with the installation of a Grand Carillon such as that we have proposed.13

 

Was, so billig? Dann nehme ich gleich zwei!

    In Belgien blieb das Carillon von Gent mit der groflen Oktave und den kleinen cis- und dis-Pedalen ein Einzelfall. Bis heute basiert die Pedalklaviatur der europäischen Carillons auf dem Umfang kleines c-d-e- g1. Seit Pieter Hemonys Schrift vom 1678 über die Nutzlosigkeit des kleinen cis und dis werden diese Pedale als überflüssig betrachtet, und vielen modernen Instrumenten fehlt das kleine dis- und nur ganz wenige haben ein kleines cis-Pedal.14 Die Carillons der Antwerpener Kathedrale, der Sankt Rombouts Kathedrale in Mecheln und der Universitätsbibliothek in Löwen wurden ohne diese Pedale gebaut - dem Carillon von Brügge fehlen die kleine cis- und dis-Pedale noch heute. 1972 und 1986 installierte die niederländische Gieflerei Eijsbouts Carillons ohne sie in München bzw. Wiesbaden, 1991 gab es allein in den Niederlanden noch 117 solche Instrumente einschliefllich aller fünf Hemony-Carillons der Stadt Amsterdam.15 1905-1906 hatte die Gieflerei van Bergen das Carillon des Utrechter Doms mit Glocken für ein kleines cis- und dis-Pedal ausgestattet, doch diese wurden 1952 wieder entfernt.16
    Auch die große Oktave gehört nicht zur Pedalklaviatur eines europäischen Carillons. Zwar haben mehrere Instrumente, u.a. die großen Carillons in Dijon, Douai, 's-Hertogenbosch, Löwen, Lyon, Mecheln, Rotterdam und Utrecht, ein oder zwei Pedale in dieser tiefen Lage, aber diese sind mit wenigen Ausnahmen an bereits vorhandenen Läuteglocken angekoppelt und stellen deshalb meistens eine willkürliche Erweiterung der gängigen Pedalklaviatur dar.17 Bei dem Carillon, das Taylor†für das Rotterdamer Rathaus 1920 goß, war dies jedoch nicht der Fall. Die englische Werkstatt hatte bereits drei vollchromatische Carillons für niederländische Städte angefertigt: je ein leichtes mit 25 Glocken für Appingedam 1911 und Eindhoven 1914 und ein mittelschweres mit 33 Glocken für Vlissingen 1914. Das Rotterdamer Instrument hatte 49 Glocken, einen 4,25 Tonnen schweren gis0-Bourdon und ein Gesamtgewicht von 28,2 Tonnen.
    Die vier niederländischen Carillonberater für das Projekt nahmen das Hemony-Carillon im Utrechter Dom zum Vorbild und lieflen die Rotterdamer Glocken einen Halbton höher am Spieltisch ankoppeln. Also erhielt das Rathaus ein Carillon mit den Pedalen großes A- c2. Hätten die Sachverständigen sich für einen Spieltisch mit dem Umfang großes G- c4 und einer Pedalklaviatur grofles G- c2 entschieden, wäre nicht nur ein Instrument mit einer Unterdominante als tiefstem Pedal sondern auch das erste moderne Grand Carillon entstanden!
    1928 stifteten sechzehn amerikanische Ingenieursvereinigungen ein großes Instrument mit 48 Glocken von Gillett & Johnston für den Turm der Universitätsbibliothek in Löwen, Belgien, im Andenken an ihre im Ersten Weltkrieg gefallenen Kollegen. Es wurde jedoch nicht als Grand Carillon sondern als eine Kopie des Mechelner Instruments gebaut: beide Carillons hatten einen fis0-Bourdon und denselben Umfang großes B-c-d-e- c4.18 Als die Gießerei Eijsbouts im Jahre 1972 Glocken für die großen G- und B-Pedale des Carillons im Utrechter Dom lieferte, dachte niemand an Glocken für die großen A- und H-Pedale und für das kleine cis-Pedal. Die Carillonneure Europas hatten schlichtweg kein Bedürfnis nach Instrumenten mit der Halboktave großes G-A-B-H; die zusätzlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, die sie boten, waren ihnen noch nicht bewußt geworden. Nur eine kleine Anzahl der Carillonneure hatte den Sprung über den Atlantik geschafft und die Gelegenheit gehabt, ein Grand Carillon zu sehen und zu spielen. Die Europäer hielten an ihren altehrwürdigen jahrhundertealten Traditionen fest.

    Mit zwei historischen Ausnahmen, die allerdings - wie immer - die Regel bestätigen. Auf einer Rundreise durch die Niederlande hörte König Johann V. von Portugal immer wieder die Klänge der vielen Carillons, die die Städte zierten. Warum sollte er nicht seinen neuen Palast in Mafra auch mit so einem Instrument schmücken? Als der Monarch den hohen Preis eines solchen Carillons erfuhr, soll er darauf ironisch erwidert haben Was, so billig? Dann nehme ich gleich zwei!19 Und wie Rockefeller zwei hundert Jahre später es tat, so trachtete auch der portugiesische König nach den damals größten und schwersten Carillons der Welt. Zu der Zeit umfaflten die groflen Carillons normalerweise drei Oktaven. Einige brachten es auf dreieinhalb Oktaven, das Carillon der Sankt Rombouts Kathedrale in Mecheln hatte gar 44 Glocken! Also bestellte der König zwei Instrumente, eins von Willem Witlockx aus Antwerpen und eins von Nicolas Levache aus Liège mit je einem f0-Bourdon und 44 bzw. 46 Glocken, die 1730 gegossen wurden. Die größte Glocke des Levache-Carillons wiegt neun und alle Glocken zusammen fast 44 Tonnen, und die größte Glocke des Witlockx-Carillons 9,6 und alle Glocken zusammen mehr als 44 Tonnen! Witlockx stimmte sein Instrument mitteltönig und zwar so, dafl der f0-Bourdon am Spieltisch als großes G angekoppelt werden sollte.20 Die Pedalklaviaturen beider Instrumente hatten den Umfang grofles G-A-H-e1; das Witlockx-Carillon hatte jedoch auch das große B. Witlockx und Levache nahmen dabei vermutlich das Carillon von Gent mit seiner Pedalklaviatur großes G-A-H-c-cis-d-e- e1 zum Vorbild.21
    Es entstanden also zwei weitere Vorläufer des modernen Grand Carillons, und wieder waren es die Instrumente von Mecheln und Gent, die als Ausgangspunkt dienten. Die Carillons von Mafra fristeten jedoch ein Dasein weitab von der Hochburg der Carillonkunst, gerieten bald in Vergessenheit und verkamen. Drei Jahre nachdem der Amerikaner Rockefeller das erste moderne Grand Carillon erwarb, beiseitigte der Belgier Jef Denyn, der den großen Umfang und die vielen Pedale des New Yorker Instruments kritisiert hatte, die beiden portugiesischen Prototypen davon. 1928 ließ er den Spieltisch des äußerst schlecht gestimmten Levache-Carillons von den Glocken abkoppeln. Zur selben Zeit restaurierte er das Witlockx-Carillon und stattete es mit einem herkömmlichen Stockspieltisch aus. Die neue Pedalklaviatur begann erst mit dem kleinen c-Pedal, das Instrument  transponierte nun eine Quinte nach unten!22
    1982 wurde das Carillon im Bergfried von Gent ebenfalls umgebaut. Der alte Spieltisch mit der Halboktave grofles G-A-H wurde durch einen neuen ersetzt, der wie das Mechelner Instrument eine Pedalklaviatur mit den Tönen großes B-kleines c-d- g2 hatte und eine Terz tiefer transponierte. Der Urahn des Grand Carillons und das letzte Beispiel für ein Instrument dieser Art in Europa war vorerst verschwunden.


1. Es gab zahlreiche kleinere Glockenspiele in Nordamerika, bei denen ein Glöckner große Holzstöcke mit einer oder zwei Händen griff und herunterdrückte. Französische Gießer installierten auch drei größere Glockenspiele in den USA. Sie hatte jedoch keine Carillonstockspieltische. Zwei von den Instrumenten stammten von Ernest und Amadèe Bollèe in Le Mans. Das erste mit 23 Stimmen für die Notre Dame Universität, Indiana, entstand 1856. Es erklang automatisch mittels einer Spieltrommel und war auch mit Hilfe einer Hebelmechanik per Hand zu spielen. 1870 folgte ein weiteres Instrument mit 43 Glocken und einer pneumatisch betriebenen Klaviertastatur für die Saint Joseph's Kathedrale in Buffalo, New York. 1900 stellte Paccard ein Glockenspiel mit 26 Stimmen für Saint Vincent's Seminary in Philadelphia, Pennsylvania, fertig. Es war ebenfalls mit einer Art Klaviertastatur ausgestattet, einem sogenannten Maisonnave-Spieltisch. Vgl. Jeffrey Bossin: In Search of North America's First Carillon. In: Bulletin of the Guild of Carillonneurs in North America, Bd. XL (1991), S. 35-38 und ders.: Die Carillons von Berlin und Potsdam, Berlin 1991, S. 131-133.
2.
William Gorham Rice: Carillons of Belgium and Holland. London und New York 1914; ders.: The Carillon in Literature. London und New York 1916; ders.: Carillon Music and Singing Towers of the Old World and the New. New York, 1925, rev. 2 1930, ders.: Tower Music of Belgium and Holland. In: The Musical Quarterly, Bd. I Nr. 2, (1915); ders.: The Carillons of Belgium After the Great War. In: Art and Archeology, XII, 2, (August 1921) 8o.; ders.: The Singing Towers of Belgium and Holland. In: The National Geographic Magazine, Bd. XLVII, nr. 3, (1925). Zwischen 1912 und 1922 hielt Rice 35 Vorträge und Ansprachen über das Instrument in verschiedenen amerikanischen Städten, u.a. vor den Mitgliedern des Century Club, New York, eines renommierten Vereins aus Architekten, Malern, Musikern, Professoren und Verlegern.
3. Dazu gehören die Carillons für Birmingham, Alabama, Chicago, Illinois (St. Chrysostom's Church), Cohasset, Massachusetts, Philadelphia, Pennsylvania (First Methodist Church), Plainsfield, New Jersey und Toronto, Kanada (Metropolitan Church).

4. Frau Coolidge war auch Ehrengast bei der Einweihung des Carillons von Mercersburg, Pennsylania, in Oktober 1926.
5. Die Informationen über den Beginn von Rockefellers Carillonprojekt im Jahre 1921, Taylors Angebot für ein Carillon mit 35 Glocken und den ersten Vertrag mit Gillett & Johnston für ein Carillon mit 43 Glocken stellte mir Cyril Johnstons Tochter Jill Johnston freundlicherweise zur Verfügung.

6. Um 1920 war das Carillon mit 56 Glocken in der französischen Stadt Chalons-sur-Marne das größte Carillon der Welt, und die beiden Carillons von Mafra, Portugal, mit je einem Gesamtgewicht von 44 Tonnen waren die schwersten der Welt. Diese entlegenen Instrumente waren damals jedoch wenig bekannt.

7. Wenn eine e0-Glocke am Spieltisch als kleines c angekoppelt wird, so transponiert das Carillon vom Schlagton her nicht eine kleine Sexte nach unten sondern eine große Terz nach oben. Dies widerspricht jedoch der praktischen Erfahrung eines Carillonneurs, der den tiefen Klang einer rund zwei Tonnen schweren c1-Glocke normalerweise dem kleinen c am Spieltisch zuordnet. Dementsprechend hat der Carillonneur das Gefühl, daß, wenn eine Glocke mit einem Schlagton höher als c1 am Spieltisch als kleines c angekoppelt ist, das Instrument nach oben und im umgekehrten Fall es nach unten transponiert. Die in diesem Artikel angegebenen Transpositionen tragen dieser Empfindung Rechnung und entsprechen der Praxis, in der eine c1-Glocke am Spieltisch gewöhnlich als kleines c und manchmal als kleines d, es, e oder gar f angekoppelt wird. 

8. Der g0-Bourdon des Carillons von Brügge mit 47 Glocken und die f0-Bourdons der neuen Carillons von Mecheln und Halle an der Saale mit 49 bzw. 76 Glocken sind am Spieltisch als kleines c bzw. großes B angekoppelt. Die Instrumente transponieren eine Quarte tiefer. Gillett & Johnstons Carillon mit 23 Glocken für Toronto, Kanada - das erste moderne Instrument in Nordamerika - hat einen a0-Bourdon als kleines c am Spieltisch angekoppelt. Solche schweren Transpositionen waren bei kleinen Instrumente jedoch die Ausnahme.

9. Das Carillon von Gent war das einzige Hemony-Instrument, das nicht  im Cornet- oder Orgelton gegossen wurde oder das transponierte. Vgl. Andrè Lehr: De klokkengieters François en Pieter Hemony. Asten 1959, S. 102-113.

10. Der Spieltisch des Carillons für die Park Avenue Baptist Church ist abgebildet in Percival Price: Bells and Man. Oxford, New York, Toronto und Melbourne 1983, S. 230. Er hat ein großes Gis-Pedal, obwohl keine Glocke dafür geliefert wurde. Die Richtlinien für den nordamerikanischen Standardspieltisch, die die Guild of Carillonneurs in North America 1970 erließen, sehen vollchromatische Instrumente vor. Obwohl die Glocke für den ersten Halbton eines Carillons fast immer weggelassen wird, haben die Spieltische der Instrumente von Centralia und Springfield, Illinois, ebenfalls ein stummes großes Gis-Pedal. Der Spieltisch des Carillons für die Park Avenue Baptist Church hatte auch einige bemerkenswerte Eigenschaften, die sich von den europäischen Spieltischen unterschieden. Anstelle einer flachen Pedalklaviatur hatte der Spieltisch des New Yorker Instruments eine konkave, die vermutlich der Carillonberater und Organist Frederick Mayer von der Orgel übernahm. Auflerdem war die Anordnung des Pedals zum Manual eine andere. Bei den belgischen und niederländischen Spieltischen lag das kleine h-Pedal unterhalb der g2-Taste, beim Spieltisch des Rockefeller-Carillons war es unterhalb der d2-Taste positioniert. Beide Merkmale des New Yorker Carillons wurden später in die Richtlinien für den nordamerikanischen Standardspieltisch übernommen. (vgl. WORLD CARILLON FEDERATION (Hg.): The Carillon Console. o.O. 1982, S. 34-37.) Bei den Spieltischen, die für die Carillons der Riverside Church, New York, der Universität von Chicago, Illinois, und des Peace Tower, Ottawa, gebaut wurden, benutzten Gillett & Johnston allerdings die flämische Anordnung der Pedalklaviatur zum Manual mit den Pedalen weiter rechts und dem kleinen b-Pedal unterhalb der f2- oder g2-Taste. Bei einem Carillon mit 53 Glocken, wie das für Ottawa, ragte die Pedalklaviatur über das Manual rechts hinaus. Vgl. Abbildung des Spieltisches von Ottawa in Percival Price: The Carillon. London 1933, S. 143.

11. Stephen Cake, Manager der Carillons and Chimes Department der Glockengieflerei John Taylor, Loughborough, England, teilte mir ferner mit, dafl Taylor auch die Carillons für Ann Arbor, Michigan, und Washington D.C. als Grand Carillons bezeichnete und daß Gillet & Johnston diesen Terminus in Bezug auf deren ähnlich großen und schweren Instrumente verwendeten. Er konnte jedoch keine Belege von Gillet & Johnston dafür liefern (vgl. Email von Stephen Cake an Jeffrey Bossin vom 29. April, 2003).

12. Wir sehen gar nichts....daß uns daran hindern wird, aus dem Carillon einen großen Erfolg zu machen. [Übers. vom Autor] Vgl. D.R.V. Wood und John Gordon: Bells of Remembrance. The History of the War Memorial Carillon 1923-1987 = Sydney University Monographs Nr. 7. Sydney 1991, S. 71. Auszug aus einem Brief der Glockengießerei Taylor, leider ohne Angabe des Autors und Datums, den Umständen zufolge jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Jahre 1925.

13. Es gibt deshalb nicht den geringsten Zweifel, daß Sie ein Grand Carillon in der Art wie von uns vorgeschlagen ohne Bedenken installieren können. [Übers. vom Autor] Ebenda. Das Zitat bezieht sich vermutlich auf die Statik des daf¸r vorgesehenen Turms. Die sonst nur bei Eigennamen verwendeten Groflbuchstaben in der Bezeichnung "Grand Carillon" dienen an jener Stelle zur Hervorhebung dieses Terminus und entsprechen der Vorlage.
14. 1675-1678 gofl Pieter Hemony ein vollchromatisches Carillon für die St. Jans Kirche in Gouda mit Glocken für die kleinen cis- und dis-Pedalen. Der Organist und musikalische Sachverständige Quirinus van Blankenburg riet dem Auftraggeber dazu und veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel De noodsakelijkheid van cis und dis in de bassen der klokken [Die Notwendigkeit von cis und dis in den Bässen der Glocken(spiele); verschollen]. Blankenburg wurde von der Fachwelt dafür heftig angegriffen. Zusammen mit den vier renommierten Carillonneuren Dirck Scholl und seinem Vater Jan Scholl (Brielle) sowie Salomon Verbeek und Michael Nuyts (Amsterdam) verfaßte Pieter Hemony eine Gegendarstellung. Vgl. Pieter Hemony: De on-noodsakelijkheid en ondienstigheid van cis en dis in de bassen der klokken, [Faksimiledruck der Ausgabe Delft 1678], Amsterdam 1927 und Asten 1964. 1776-1779 stellten der flämische Gießer Andreas Jozef van den Gheyn und sein Sohn Andreas Lodewijk ein vollchromatisches Carillon mit 37 Glocken für die Sankt Gertrauden Kirche der Stadt Löwen her. 1993 lieferte die Gieflerei Eijsbouts zwar ein vollchromatisches Carillon für die Ruine der Hamburger Alten Nikolaikirche. Das Instrument ist jedoch eine Nachbildung des Carillons, das Franz Schilling 1905 für die Danziger Katharinenkirche goß, im Zweiten Weltkrieg ausgelagert worden war und 1948 in unvollständiger Form in der Lübecker Marienkirche installiert wurde. Taylor goß vollchromatische Carillons mit kleinen cis- und dis-Pedalen für Appingedam, Eindhoven, Rotterdam und Vlissingen, Niederlande, Sydney, Australien, Andover, Massachusetts, Birmingham, Alabama, New Haven, Connecticut, und Spokane, Washington, USA sowie für Capetown, Südafrika. Auch die vollchromatischen Carillons von Holland und Valley Forge, Pennsylvania, New Canaan, Connecticut, Williamsville, New York und der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und in Berkeley sowie die Instrumente in Kiel und Berlin-Tiergarten haben Spieltische mit kleinen cis- und dis-Pedalen.

15. Allerdings wurde in vereinzelten Fällen wie die Carillons in Ede und Nijkerk, Niederlande, und die Instrumente der Sankt Rombouts Kathedrale, Mecheln und der Universitätsbibliothek Löwen, Belgien, sowie des Münchner Olympia Stadions eine Glocke für das kleine dis-Pedal nachträglich hinzugefügt. Das Carillon der Antwerpener Kathedrale  wurde mit Glocken sowohl für das kleine dis- als auch für das große B-Pedal ausgestattet.

16. 1974 erhielt das Carillon im Utrechter Dom wieder eine Glocke für das kleine dis-Pedal.

17. Die Carillons von Antwerpen, Kortrijk, Lokeren, Löwen (Universitätsbibliothek), Mecheln (Sankt Rombouts Kathedrale), Oostende, Oudenaarde und Scherpenheuvel, Belgien, und Breda, Middelburg und Rotterdam, Niederlande, haben ein großes B-Pedal, das Instrument von Delft, Niederlande, ein großes A-Pedal, die Carillons von Douai, Frankreich, und 's-Hertogenbosch und Utrecht, Niederlande, große G- und B-Pedale, und die Instrumente von den Haag und Groningen, Niederlande, große G-, B- und H- bzw. große F-, A- und B-Pedale.

18. Die Gillett & Johnston Gießerei projektierte ein Carillon mit 60 Glocken und lieferte einen entsprechenden Spieltisch mit dem Umfang großes B-c-d-e-c5. Allerdings stifteten die amerikanischen Ingenieure nur 48 Glocken, die die 48 Bundesstaaten der damaligen USA symboliserten.

19. Luís Filipe Marques da Gama:  Os Carrilhoes de Mafra - Subsìdios para sua Histuria. In: Os Carrilhoes de Mafra. o.O. 1989, S. 13-38, hier S. 19 [Übers. vom Autor].

20. Die Außenseite des f0-Bourdons wurde deshalb mit dem Buchstaben G versehen.

21. Dem Hemony-Carillon für Gent fehlten ursprünglich die kleinen cis- und dis-Pedale. Jan Pauwels goß eine Glocke für das kleine cis-Pedal 1713 und Georges du Mery eine für das kleine dis-Pedal 1749.

22. Es ist nicht klar warum Jef Denyn die Transposition des Witlockx-Carillons in Mafra änderte. Weil mit Ausnahme des Genter Instruments die tiefen Pedale großes G-A-H bei einem Carillon fast nie vorhanden waren, hielt er sie wahrscheinlich für überflüßig und dachte es wäre Schade, wenn die großen und prächtig klingenden Baßglocken des Instruments nur selten zu hören wären. Die neue Quinttransposition paßte zwar nicht ganz zu der mitteltönig gestimmten Glockenreihe, die auf die Tonfolge g-gis-a-b-h-c-cis-d-es-e-f-fis-g abgestimmt war. Aber die Skala, die sich aus der neuen Lage ergab, hatte nur einen Ton zur Folge, der der mitteltönigen Stimmung fremd war, nämlich ein as anstelle von einem gis. Hätte Denyn hingegen wie im Falle seines eigenen Instruments in Mecheln den Bourdon von Mafra mit dem groflen B-Pedal verkoppelt, hätte die sich daraus resultierende Tonleiter nicht einen sondern gleich drei unpassende Töne gehabt: des, ges und as.

© Jeffrey Bossin