Der ganze Himmel als Konzertsaal

-  Fünfzehn Jahre als Berliner Carillonneur -

von Jeffery Bossin

 

Es begann im Herbst 1984 in der West Berliner Neuen Nationalgalerie auf der Eröffnung einer Ausstellung mit dem passenden Titel Abenteuer der Ideen. Dort wurde ich dem Wiener Architekten Hans Hollein vorgestellt, dessen Entwurf zur Neugestaltung des Kulturforums neben der Philharmonie gerade mit dem ersten Preis des Wettbewerbs ausgezeichnet worden war. Ihn fragte ich, ob er sich einen Carillonturm als Teil des Areals vorstellen könnte, und ihm gefiel die Idee. Daraufhin schlug ich dem damaligen Leiter des Architekturreferats in der Berliner Kulturverwaltung den Bau eines Carillonturms vor. Aber anstatt im Holleins Kulturforum zu stehen, sollte er im Tiergarten gebaut werden. Nach drei Jahren intensiver Arbeit wurde mein Traumprojekt zur Wirklichkeit: am 27. Oktober 1987 durfte ich als Carillonneur ein großes Carillon in einem eigens dafür errichteten 42 Meter hohen Turm neben der Kongreßhalle mit einem Festkonzert einweihen[i]. Das Instrument wurde anläßlich der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin von Daimler-Benz im Andenken an die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Carillons der Berliner Parochial- und der Potsdamer Garnisonkirche gestiftet und von der niederländischen Glockengießerei Eijsbouts nach meinen umfangreichen und detaillierten technischen Spezifikationen gegossen und zusammengebaut. Die 68 Glocken wiegen insgesamt 48 Tonnen, der F0 Bourdon bringt 7,8 Tonnen auf die Waage. Es war nicht nur das damals größte und schwerste Carillon Europas sondern auch das erste Grand Carillon auf dem Kontinent, ein in Nordamerika verbreiteter Typus von Glockeninstrument mit mindestens 53 Tasten (G-A-c4) und 29 Pedalen (G-A-c2). Der große Ambitus des Berliner Grand Carillons ermöglicht dem Carillonneur eine Vielfalt an Klängen zu erzeugen und auch sämtliche Stücke des Carillonrepertoires zu spielen, darunter auch viele, die auf europäischen Carillons nicht aufzuführen sind, weil bei diesen mit ganz wenigen Ausnahmen die dafür benötigte erste Halboktave von Pedalen (G-c) fehlt.

Nach der Einweihung übertrug der Senator für Kulturelle Angelegenheiten mir die Bespielung und Betreuung des neuen Carillons. Ich gründete das Büro CarillonConcertsBerlin und arbeite seit 1988 als freiberuflicher Carillonneur, der sämtliche Veranstaltungen für das Instrument organisiert. Ich stelle den Jahresetat auf, erledige die Büro-, Presse- und Medienarbeiten, schreibe und verteile die Programme, lade die Gastcarillonneure ein und betreue sie vor Ort, führe Kleinreparaturen am Carillon aus, arbeite mit einer Fachfirma bei der jährlichen Wartung zusammen und betreue und programmiere die Automatik[ii].

 

Freiluftkonzerte an den Sonntagnachmittagen

Als Carillonneur bin ich jedoch vor allem beauftragt, das Instrument regelmäßig zu bespielen und habe von Weihnachten 1987 bis Weihnachten 2001 insgesamt 424 Sonn- und Feiertagskonzerte gegeben[iii]. Das Carillon steht nach amerikanischem Vorbild in einer Grünanlage. Dort, abseits der Innenstadt, gibt es wenige Verkehrsgeräusche und Ablenkungen, und die meisten Wohngebäude sind weit genug entfernt, sodaß die ungewöhnlichen Glockenklänge die Bewohner nicht stören. An diesem Ort wird Carillonmusik zum Konzerterlebnis statt als anonyme Geräuschkulisse zum Einkaufsbummel durch die Innenstadt zu dienen: die Besucher fahren zu einer in der Presse angekündigten Veranstaltung gezielt hin, nehmen sich ein Programm, stehen am Turm oder setzen sich daneben auf den Rasen und geniessen die Musik. Die Klänge locken auch viele zusätzlichen Zuhörer aus der unmittelbaren Umgebung an. Weil alles wie von Zauberhand ertönt, ohne daß die Glocken sich dabei bewegen, winke ich vor und nach dem Konzert dem Publikum zu, damit sie sehen, daß ein Musiker am Werk ist. Danach biete ich eine Turmführung an, erkläre das Instrument und dessen Geschichte und Repertoire und führe die Spieltechnik vor. Diese Freiluftkonzerte im Grünen finden von Anfang Mai bis Ende September jeden Sonntagnachmittag sowie am Ostersonntag und - Montag, am Pfingstmontag und am 3. Oktober um 15 Uhr statt und dauern eine Dreiviertelstunde[iv]. Gespielt wird auch an den vier Adventssonntagen und an beiden Weihnachtsfeiertagen um 14 Uhr. Konzerte gibt es auch bei schlechtem Wetter. Dann können die Besucher in ihren Autos neben dem Turm sitzen oder am überdachten Eingang der Kongreßhalle stehen und zuhören.

Das Publikum besteht aus Menschen aller Altersgruppen, die alle vom schönen Klang des Instruments fasziniert sind, die jedoch die unterschiedlichsten musikalischen Vorlieben haben. Ich spiele deshalb meistens Programme mit einer Mischung aus Carillonkompositionen, Bearbeitungen von klassischen Werken und Arrangements von Volksweisen und populären Liedern. Im Gegensatz zu den meisten Berufsmusikern darf sich ein Carillonneur als Interpret sowohl klassischer als auch Unterhaltungsmusik profilieren. Die Konzerte bieten auch Musik passend zu den verschiedenen Jahreszeiten und Festen des Kirchenkalenders: entsprechende Choralbearbeitungen zu Advent, Ostern und Pfingsten, Frühlings- und Maienlieder im Mai, Volks- und Sommerlieder im Juli und August, Musik aus Deutschland am 3. Oktober und beliebte Weihnachtslieder aus verschiedenen Ländern zu Weihnachten. Es werden auch Konzerte zu einem bestimmten Thema gegeben: Werke von Johann Sebastian Bach mit Bearbeitungen dessen Klavier- und Orgelkompositionen, Opernmusik mit Auszügen aus Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart, Der Freischütz von Carl Maria von Weber und Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni, Carillonwerke aus den Niederlanden mit Kompositionen von Henk Badings und Leen ´t Hart sowie Populäre Melodien mit Liedern wie Yesterday von den Beatles und Summertime von George Gershwin.

Sonderprogramme werden auch für Sonntagskonzerte zusammengestellt, die bestimmten Anlässen gewidmet sind. Zum evangelischen Kirchentag 1989 und Katholikentag 1990 in Berlin spielte ich geistliche Musik, 1993 erklangen Carillonwerke aus den USA und Lieder von George Gershwin und Cole Porter während drei Konzerte im Rahmen des Beiprogramms USArts zu der Ausstellung Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. 1993-1995, 1997 und 1999 fanden jeweils zwei Sonntagskonzerte im Rahmen der Bach-Tage Berlin statt. 1993 spielte ich zum Thema Bach als Wegweiser Präludien, Toccaten, Suiten und Chaconnes von Johann Sebastian Bach und Carillonwerke des 20. Jahrhunderts, die sich daran anlehnen[v]. Im folgenden Jahr besuchte der italienische Männerchor Lorenzo Perosi Berlin, und es wurde zusammen mit ihm und dem Frauenchor Spandau ein Carillonkonzert mit Musik aus seinem Heimatland veranstaltet. 1995 wurde ich in die neugegründete europäische Carillonvereinigung Eurocarillon aufgenommen, um als einziges in Deutschland lebendes und wirkendes Mitglied das Land und dessen Carillonkunst zu vertreten. Seit 1996 findet das Eröffnungskonzert der Berliner Carillonsaison als Eurocarillon-Konzert im Rahmen der Europawoche Anfang Mai statt, und das Programm umfaßt Musik aus den verschiedenen Mitgliedsländern von Eurocarillon. Sonderprogramme werden auch Einzelpersonen und Vereinen gewidmet: zum Besuch des Vorsitzenden der Assoziation der Glockenkünste in Rußland 1989 erklangen Auszüge aus Modest Mussorgskijs Bilder einer Ausstellung, 1996 spielte ich Musik aus den Niederlanden und Flandern für die Deutsch-Niederländische Gesellschaft, 2000 unterhielt ich die Initiative Berlin-USA mit amerikanischen Evergreens. Zu den Geburts- und Todestagen wichtiger Komponisten wie der hundertste Geburtstag von George Gershwin 1998 und der 250sten Todestag von Johann Sebastian Bach 2000 sind Programme mit ihren Werken zu hören. Das Sonntagskonzert am 16. September 2001 wurde den Opfern der Terroranschläge in den USA gewidmet und bot Musik der Trauer und des Trostes.

Bei jedem Programm wird die Reihenfolge der Stücke sorgfältig gestaltet. Ähnliche Werke werden in Gruppen zusammengestellt, damit die Zuhörer sich eine Zeit lang auf eine bestimmte Art von Musik einstellen können. Folgen von unterschiedlichen Gruppen, wie Klaviermusik des 18. Jahrhunderts, Chansons und Berliner Liedern, Carillonwerken aus Nordamerika, usw. und von Stücken mit wechselnden Tempi und Charakteren sorgen für Abwechslung, um die Aufmerksamkeit eines Publikums zu halten, das im Freien vielen Ablenkungen ausgesetzt ist. Ausdrucksstarke Kompositionen umrahmen das Konzert mit einem markanten Anfang und kräftigen Schluß. Diese Art von Programmgestaltung setzt ein umfangreiches und vielfältiges Repertoire voraus.


Carillonmusik von Matthias van den Gheyn bis John Cage

Originalkompositionen sind ein wichtiger Bestandteil des Carillonrepertoires. Die elf virtuosen Präludien des Flamen Matthias van den Gheyn, der als Carillonneur von 1745 bis 1785 in Löwen wirkte, nehmen einen zentralen Platz darin ein[vi]. Es sind schnelle toccatenartige Bravourstücke, die den schillernden Klang des Carillons exponieren. Sie eignen sich sehr als Anfangsstücke, weil sie die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf den Beginn des Konzerts ziehen. Fast alle übrigen Carillonwerke entstanden im Laufe des 20. Jahrhunderts. Bis 1900 hatten die belgischen und niederländischen Carillonneure hauptsächlich zu den Wochenmärkten gespielt. Im Laufe der letzten hundert Jahre begannen sie nach und nach auch Abendkonzerte zu veranstalten, bei denen sich ein Publikum die Musik aufmerksam zuhörte, und es entwickelte sich ein Bedarf an anspruchsvollen Werken für Carillon. Viele von diesen Kompositionen stammen von Carillonneuren, die mit der Spieltechnik und dem Klang ihres Instruments vertraut sind. Dazu gehören die spätromantischen Stücke des Belgiers Staf Nees, deren Verschmelzung von Volksliedgut und Virtuosität eine anspruchsvolle und dennoch allgemein verständliche Kunstmusik für das Carillon verkörpern, die neoklassischen Werke der Niederländer Wim Franken und Leen 't Hart, die neoromantischen Stücke des Amerikaners Ronald Barnes und die Kompositionen des Frankokanadiers Émilien Allard, der ein Schüler von Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium war und neben modernen Werken mit indischen Rhythmen und Skalen auch neoromantische



[i] Einzelheiten zur Entstehung des Carillons in Berlin-Tiergarten sowie Abhandlungen über das Wesen des Carillons, seine Entwicklung weltweit und seine Musik sind nachzulesen in Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam. Berlin 1991.

[ii] Das Carillon verfügt über eine automatische Spielvorrichtung, die die Glocken c2-c4 steuert.

[iii] Es sind bisher sechs Dokumentarbücher mit allen Konzertprogrammen und einem ausführlichen Bericht über die Aktivitäten sowie den Presseberichten erschienen: Jeffrey Bossin (Hrsg.): CarillonConcertsBerlin 1987/88. Veranstaltungen, Konzertprogramme und Presseberichte. Berlin 1989  bzw.  CarillonConcertsBerlin 1989/90, CarillonConcertsBerlin 1991/93, CarillonConcertsBerlin 1994/95, CarillonConcertsBerlin 1996/97 und  CarillonConcertsBerlin 1998/2000. Die Bände sind vom Herausgeber erhältlich.

[iv] Bis Ende 1999 begannen die Konzert um 14 Uhr. Gewöhnlich entfällt ein Sonntagskonzert in der Zeit von Anfang Mai bis Ende September.

[v] 1994 erklangen zum Thema "Bachstadt Berlin, Musikstadt Berlin" Stücke der Berliner Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach, Wilhelm Bender, Felix Mendelssohn Bartholdy und seines Klavierlehrers Ludwig Berger , 1995  zum Thema Begegnungen: Bach - Händel - Telemann Werke der drei Komponisten, 1997 zum Thema Begegnungen: Frankreich-Italien-Deutschland Stücke von François Couperin, Domenico Scarlatti und Georg Friedrich Händel. 1999 wurden zum Thema Das Neue im Alten eine Bachs Ouevre der Carillonmusik des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt. 2000 wurden die Bach-Tage Berlin eingestellt.

[vi] Mehr dazu in Jeffrey Bossin: Musik für Carillon 1600-1900. Die Suche nach einem verschollenen Repertoire. In: Kurt Kramer und Hartwig Niemann (Hrsg.): Glocken in Geschichte und Gegenwart. Karlsruhe 1997, S. 113-129, rev. in: Günter Fleischhauer, Monika Lustig, Wolfgang Ruf und Frieder Zschoch (Hrsg.): Glocken und  Glockenspiele = Michaelsteiner Konferenzberichte 56. Michaelstein 1998, S. 122-142.

[1] Einzelheiten zur Entstehung des Carillons in Berlin-Tiergarten sowie Abhandlungen über das Wesen des Carillons, seine Entwicklung weltweit und seine Musik sind nachzulesen in Jeffrey Bossin: Die Carillons von Berlin und Potsdam. Berlin 1991.

[1] Das Carillon verfügt über eine automatische Spielvorrichtung, die die Glocken c2-c4 steuert.

[1] Es sind bisher sechs Dokumentarbücher mit allen Konzertprogrammen und einem ausführlichen Bericht über die Aktivitäten sowie den Presseberichten erschienen: Jeffrey Bossin (Hrsg.): CarillonConcertsBerlin 1987/88. Veranstaltungen, Konzertprogramme und Presseberichte. Berlin 1989  bzw.  CarillonConcertsBerlin 1989/90, CarillonConcertsBerlin 1991/93, CarillonConcertsBerlin 1994/95, CarillonConcertsBerlin 1996/97 und  CarillonConcertsBerlin 1998/2000. Die Bände sind vom Herausgeber erhältlich.

[1] Bis Ende 1999 begannen die Konzert um 14 Uhr. Gewöhnlich entfällt ein Sonntagskonzert in der Zeit von Anfang Mai bis Ende September.

[1] 1994 erklangen zum Thema "Bachstadt Berlin, Musikstadt Berlin" Stücke der Berliner Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach, Wilhelm Bender, Felix Mendelssohn Bartholdy und seines Klavierlehrers Ludwig Berger , 1995  zum Thema Begegnungen: Bach - Händel - Telemann Werke der drei Komponisten, 1997 zum Thema Begegnungen: Frankreich-Italien-Deutschland Stücke von François Couperin, Domenico Scarlatti und Georg Friedrich Händel. 1999 wurden zum Thema Das Neue im Alten eine Bachs Ouevre der Carillonmusik des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt. 2000 wurden die Bach-Tage Berlin eingestellt.

[1] Mehr dazu in Jeffrey Bossin: Musik für Carillon 1600-1900. Die Suche nach einem verschollenen Repertoire. In: Kurt Kramer und Hartwig Niemann (Hrsg.): Glocken in Geschichte und Gegenwart. Karlsruhe 1997, S. 113-129, rev. in: Günter Fleischhauer, Monika Lustig, Wolfgang Ruf und Frieder Zschoch (Hrsg.): Glocken und  Glockenspiele = Michaelsteiner Konferenzberichte 56. Michaelstein 1998, S. 122-142.