Jill Johnston, England’s Child. The Carillon and the Casting of Big Bells (San Francisco 2008, 311 S., ISBN 0-932274-71-4, $ 27,95.)
 

Auf dem Schutzhülle und der Titelseite dieses Buches stehen der Titel, der Name der Autorin und – in kleinerem Schriftgrad – der Zusatz: The Carillon and the Casting of Big Bells. Beim  unbefangenen Leser wird der Eindruck erweckt, das Buch drehe sich um das Carillon im allgemeinen und im besonderen um den Guß von großen Glocken, wie die, die zusammen mit dem Wort Gillett auf der Vorderseite des Buchumschlags abgebildet sind. Nur wer die Inhaltsangabe auf der Innenseite des Buchumschlags liest, erfährt, daß dieses Buch eigentlich eine Biographie des englischen Glockengießers Cyril Johnston darstellen sollte. Bezieht sich der Titel wirklich auf ihn? Ihn als ein Kind Englands zu beschreiben wäre doch überflüssig. Und das Carillon? Auch wenn englische Gießereien zwei Jahrzehnte lang viele Carillons lieferten, sind doch Flandern und die Niederlande die echte Heimat des Carillons. Was kann mit dem Titel England’s Child gemeint sein? Diese Unklarheit macht deutlich, daß dieses Buch nicht zu den gängigen systematischen und geradlinigen Biographien gehört.

Cyril Johnston leitete die englische Glockengießerei und Turmuhrwerkstatt Gillett & Johnston von 1919 bis August 1948, also bis knapp zwei Jahre vor seinem Tode am 30. März 1950. Er übernahm die neue Methode des Glockenstimmens, die der englische Kanoniker Arthur Simpson propagiert und die die rivalisierende englische Gießerei John Taylor & Co. bereits umgesetzt hatte. In den zwanziger und dreißiger Jahren war Johnston neben Taylor als Hersteller von vielen neuen Carillons an der Wiederbelebung der europäischen Carillonkunst maßgeblich beteiligt. Zwischen 1925 und 1930 goß er neun Instrumente für die Niederlande, darunter 39 Glocken für eines in der Sankt-Johannes-Kathedrale in ’s-Hertogenbosch, welches eines der bedeutendsten Carillons des Landes darstellt. Hinzu kamen zwei Carillons für belgische Städte, darunter eines mit 48 Glocken, einem 7,1 Tonnen schweren fis0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 31,7 Tonnen für die Universitätsbibliothek in Löwen im Jahre 1928 und eines mit 42 Glocken und einem Gesamtgewicht von 7,5 Tonnen für das Rathaus von Seclin (Frankreich) 1932.

Johnston trug auch zur Ausbreitung des Carillons jenseits dessen traditioneller Hochburg in Belgien, Nordostfrankreich und den Niederlanden bei. Er goß nicht nur neue Carillons für London und Saltley, England (ein drittes für Birmingham diente als Ersatz für eines, das der englische Gießer Taylor 1906 bereits installiert hatte) und Dumbarton sowie Perth, Schottland (ein drittes für Aberdeen ersetzte eines vom belgischen Gießer van Aerschodt aus dem Jahre 1887), des weiteren je eines für Israel und Neuseeland, sondern darüber hinaus auch noch zahlreiche für Nordamerika: 23 an der Zahl zwischen 1922 und 1936 sowie zwei weitere im Jahre 1947. Ein Jahr nach Johnstons Tode lieferte die Gießerei noch ein letztes Carillon für Culver, Indiana.

Johnston wurde auch als Hersteller der bisher größten und schwersten Carillons der Welt bekannt. Nur drei Jahre nach Übernahme der Leitung der Gießerei, begann er, mit  John D. Rockefeller Jr. über den Guß eines großen Carillons für die Park Avenue Baptist Church in New York zu verhandeln, das mit 53 Glocken, einem 9,3-Tonnen schweren e0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 49 Tonnen das bisher größte und schwerste Carillon der Welt wurde. 1926 folgte eine 15-Tonnen schwere d0-Läute- und Uhrschlagglocke für Rodman Wanamaker, der sie auf dem Dach seines vierzehngeschossigen Kaufhauses in Philadelphia, Pennsylvanien, montieren ließ[1]. 1927 goß Johnston ein zweites Carillon mit 53 Glocken und einem e0-Bourdon, diesmal für das Parlamentsgebäude in Ottawa, Kanada. Da die größte Glocke zehn Tonnen wog und das Gesamtgewicht 54,7 Tonnen betrug, war es sogar etwas schwerer als das Carillon für New York. 1928 folgte ein Carillon mit 48 Glocken, einem 7,1 t schweren ges0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 35 Tonnen für die Universitätsbibliothek in Löwen, Belgien, und 1929 lieferte er  eines mit 49 Glocken: einem as0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 32 Tonnen für das National War Memorial in Wellington, Neuseeland. Im darauffolgenden Jahr baute Johnston das Carillon für Rockefellers Park Avenue Baptist Church zu dem damals größten und bis heute schwersten Carillon der  Welt mit 72 Glocken, einem 18,5-Tonnen schweren c0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 102 Tonnen aus. Drei Jahre später verkaufte er Rockefeller  eine etwas leichtere Version des New Yorker Carillons mit 72 Glocken, diesmal mit einem 17,3-Tonnen schweren des0-Bourdon und einem Gesamtgewicht von 93 Tonnen für die Rockefeller Chapel der University of Chicago. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der Beginn des Zweiten Weltkriegs, die der am Rande Londons gelegenen Gießerei erheblichen Schaden zufügte, setzte dem Guß der großen Instrumente ein Ende – das 1939 angefertigte Glockenspiel mit  einem g0-Bourdon, die 43 weiteren Glocken c1 – d1 – chromatisch – g4 und einer elektrischen Klaviertastatur, die die Grace Cathedral in San Francisco 1943 erhielt, war eine letzte Ausnahme.

Die Autorin und Journalistin Jill Johnston hat eine unterhaltsame, gut geschriebene Biographie geliefert. Cyril Johnstons Leben wird an Hand einer Auswahl seiner wichtigsten Projekten beschrieben. Einem Überblick über die Geschichte der Familie Johnston, über Cyril Johnstons Kindheit, Erziehung und seine ersten Arbeiten in der Gießerei seines Vaters Arthur folgen drei Kapitel über das riesige Carillon für Rockefellers zwei mit Stiftungen bedachte Kirchen in New York. Weitere Kapitel handeln von einem Glockenspiel für die Kathedrale von Coventry und seinem großen Carillon für das Parlamentsgebäude in Ottawa, von der großen d0-Glocke für Wanamakers Kaufhaus, die wegen ihrer ungünstigen Plazierung in Vergessenheit geriet, von den Carillons für die Mercersburg Academy in Pennsylvania, für Belmont College, Tennessee und für Princeton University, von dem Neuguß der 56 kleineren Glocken des großen Instruments der Riverside Church durch die niederländische Gießerei van Bergen, von den Carillons, die Gillett & Johnston zwischen 1925 und 1931 für die Niederlande goß und in Zusammenarbeit mit dem damaligen Turmuhrfabrikanten Eijsbouts installierte, und schließt mit einem Kapitel über die letzten Jahre des Gießers bis zu seinem Tode 1950. Der Anhang enthält einen Stammbaum, einen Auszug aus einem Vortrag von Cyril Johnston über das Glockengießen, eine chronologische Liste aller von Gillett & Johnston gegossenen Carillons, ein Register und ein Glossar aus der Website der Guild of Carillonneurs in North America mit Fachtermini der Kampanologie und des Carillonwesens. Am wertvollsten ist das gestochen scharfe Bildmaterial, das zahlreiche Photos von Glocken und Carillons, Glockenguß, Kirchen und Kathedralen und Mitgliedern der Familie Johnston und anderen Personen umfaßt.

Das Buch zeichnet sich durch die Vorzüge der journalistischen Reportage aus: es ist unterhaltsam und informativ und enthält viele interessante Anekdoten. Die Abschnitte über Johnstons Geschäfte und deren Verläufe wirken wegen der vielen persönlichen Aspekte sehr lebendig. Die detaillierte und komplizierte Entstehungsgeschichte der Carillons für Rockefellers Park Avenue Baptist Church und Riverside Church, New York, ist der Verfasserin entsprechend gut gelungen. Dennoch ist dies kein Fachbuch: die Autorin ist weder Carillonneurin noch Musikerin oder Kampanologin. Sie begibt sich auf ein ihr völlig unbekanntes Terrain, und was dabei herauskommt ist lückenhaft und nicht fehlerfrei. Über viele von Cyril Johnstons Carillons erfährt der Leser wenig oder gar nichts. Die Liste seiner Instrumente am Ende des Buches gibt die Anzahl der Glocken eines Carillons an, nicht aber den Schlagton und das Gewicht des Bourdons und das Gesamtgewicht der Glocken. Obwohl die Liste zwei Glockenspiele mit jeweils acht Glocken enthält, die später zu Carillons ausgebaut wurden – eins für die Grosse Point Memorial Church in Grosse Point Farms, Michigan, 1927 und eines für die St. Paul’s Episcopal Church, Cleveland Heights, Ohio, 1929, zählen diese nicht als Gillett & Johnston-Carillons, weil sowohl die zusätzlichen Glocken – mit 39 bzw. 15 bei weitem die Mehrzahl des neuen Instruments – als auch die dazugehörige Traktur und der Spieltisch von anderen Gießereien stammen. Andererseits nimmt die Autorin das achtstimmige Glockenspiel aus dem Jahre 1927 für Gates Mills, Ohio, das auf dieselbe Art und Weise zu einem Carillon mit 23 Glocken (15 zusätzliche von Taylor) erweitert wurde, nicht in ihre Liste auf. Dafür führt sie Rockefellers Carillon für New York City, das von 53 auf 72 Glocken ausgebaut wurde, als zwei unterschiedliche Instrumente an, als wenn diese miteinander nichts zu tun hätten. Sie schreibt, daß das Carillon für die Grace Cathedral in San Francisco, Kalifornien nur von einer elektrischen Klaviertastatur zu bedienen war, läßt aber unerwähnt, daß die Glockenspiele für das Odeon Theatre in London ebenfalls so gebaut wurden oder daß das Glockenspiel für Chobham Estate in Surrey nur automatisch erklang. Sie gibt auch nicht an, daß dieses Instrument verschollen ist, und bleibt Auskunft darüber schuldig, welche anderen verloren gingen. Über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Gießerei Gillett & Johnston erfährt der Leser nichts. Neben zahlreichen anderen Photos enthält das Buch zwei von der Berliner Freiheitsglocke. Wer aber etwas darüber lesen will, findet jedoch kein Wort darüber im Text. Eigentlich zu Recht, denn das Projekt wurde erst nach Johnstons Tod konzipiert, so daß er nicht einmal an den Verhandlungen beteiligt war. Aber dann wozu die Neugierde des Lesers mit den Photos wecken?      

Die Einführungen in die Grundlagen der Campanologie und des Carillonwesens, die sich an den interessierten Laien richten, sind notgedrungen vereinfacht und enthalten zahlreiche Fehler und Mißverständnisse. So sollen die Hemonys die Kunst des Glockenstimmens mit ins Grab genommen haben, obwohl deren Nachfolger Jan Albert de Grave seine Glocken ebenso ausgezeichnet stimmte. Nach  der Verfasserin hat ein Carillon mit 23 Glocken (bei Johnston in der Regel ein Carillon mit den Tasten c – d – e – chromatisch – c2) einen Umfang von zweieinhalb Oktaven, und sie beschreibt Eijsbouts als eine von nur sechs heute noch vorhandenen Glockengießereien Europas und Liesbeth Janssens als Stadtcarillonneurin von Utrecht statt Lommel.

Als Laie stellt sie andere Fragen als der Fachmann und kann die Informationen, die sie durch ihre Recherchen oder von anderen bekommt, nicht immer richtig interpretieren oder wissen, welchen Stellenwert sie in der Carillongeschichte haben. So übernimmt sie die Sichtweise der Guild of Carillonneurs in North America, die der neuen englischen Methode des Glockenstimmens einen hohen Stellenwert beimißt und die Montage von Cyril Johnstons erstem Carillon für die Neue Welt in Toronto im Jahre 1922 als den Anfang ihrer Carillongeschichte ansieht. Dennoch belegen Artikel in der Fachzeitschrift der GCNA, daß bereits zwischen 1856 und 1900 vier Instrumente in Nordamerika installiert worden waren; diese werden wegen ihrer schlecht gestimmten Glocken jedoch ignoriert. Drei davon können auch nicht als Carillons gelten, weil sie keine Stockspieltische hatten. Aber das vierte Instrument, das der belgische Gießer Serverinus van Aerschodt 1883 in der Holy Trinity Church, Philadelphia, Pennsylvanien, installierte, hatte nicht nur 23 Glocken sondern auch einen herkömmlichen Carillonspieltisch und war noch vor Johnstons Carillon für Toronto in Wirklichkeit das erste echte Carillon Nordamerikas. Es wurde obendrein von dem nordamerikanischen Carillonneur Charles Bancroft 45 Jahre lang gespielt. An anderen Stellen läßt die Verfasserin sich umgekehrt nicht von der Fachwelt, sondern von ihrem Gefühl leiten. So schwärmt sie für das Spiel der belgischen Carillonneure Luc Rombouts und Liesbeth Janssens (den sie irrtümlich als Janssen buchstabiert), beschreibt den Carillonneur Geert D’hollander aber lediglich als einen fine musician, obwohl die Fachwelt der einhelligen Meinung ist, daß D’hollander der bei weitem beste Carillonneur Belgiens und einer der besten der Welt ist.

    So wie der Verfasserin als Laie kampanologische Grundkenntnisse fehlen, so fehlt ihr als (uneheliche) Tochter Johnstons die innere Distanz zu ihrem Vater und dessen Werk. Sie sehnt sich sehr nach dem Mann, den sie nie kennenlernen durfte, weil er zu ihrer Lebzeit nie Kontakt zu ihr aufnahm und ihre Mutter ihr erzählte, er sei tot. Infolgedessen entwirft sie ein idealisiertes Bild von ihm und seinem Werk, und er wird zu einer großen Figur


[1] Wegen dynamischer Probleme beim schwingenden Läuten seither transloziert und nur noch als Uhrschlagglocke im Gebrauch. (Anm. d. H.g)


  © Jeffrey Bossin