Das Carillon von Sankt Petersburg

von Jeffery Bossin

 

    Das Carillon von Sankt Petersburg hängt im Turm der St. Peter und Paul-Kathedrale. Das architektonisch eindrucksvolle Gotteshaus ist Teil der Peter und Paul-Festung, die am Ufer des Newa Flusses gegenüber der Ermitage und dem Winterpalast im Zentrum der Stadt liegt. Das Blitzen der schlanken, hohen goldenen Turmspitze war von den Schiffen, die Sankt Petersburg vom Westen her ansegelten, als erstes zu sehen, und die Kirche gehört noch heute zu den Wahrzeichen der Stadt. Das holländische Carillon im Turm diente Zar Peter dem Großen als klingendes Zeichen der westlichen Orientierung seiner neuen Hauptstadt. Die Glockenmusik erinnerte die damaligen Besucher an Amsterdam und machte ihnen sofort klar, daß Sankt Petersburg zu den modernen westeuropäischen Seehandelsstädten gehörte.

    Zar Peter I. war von den Errungenschaften der Niederländer auf dem Gebiet der Medizin, der Gravierkunst, und des Schiffbaus im 17. Jahrhundert tief beeindruckt. Während seines ersten Aufenthaltes in Holland 1697 bis 1698 hatte er Gelegenheit, die fünf Hemony Carillons zu bewundern, deren Musik in den Strassen der Hauptstadt Amsterdam Tag und Nacht erklang. Diese Instrumente waren bald in ganz Europa bekannt, und es wurden im 17. und 18. Jahrhundert Carillons in Böhmen, Deutschland, Livland, Portugal und Schweden installiert. 1665 erhielten Hamburg und Stockholm, 1691 Prag und 1698 Riga je ein Instrument. 1700 bis 1704 ließ Friedrich I., König in Preußen, ein Carillon für das Berliner Stadtschloß gießen. 1702 bestellte Zar Peter der Große drei automatische Glockenspiele von den Amsterdamer Gießern Claus Noorden und Jan Albert de Grave, darunter eins für den Spasskij-Turm und eins für den Troitskij-Turm des Moskauer Kremls. Die Festung von Sankt Petersburg hingegen sollte ein Carillon bekommen.

    1700 hatte Zar Peter I. den Großen Nordischen Krieg gegen Schweden begonnen, und seine Truppen waren am 1. Mai 1703 bis zur Mündung des Newa Flusses in den finnischen Meeresbusen vorgedrungen. Hier legte der Zar bereits am 16.Mai den Grundstein zu einer militärischen Festung, und noch im selben Jahr beauftragte er den Architekten Domenico Trezzini, der bis dahin dem dänischen König Frederick IV. in Kopenhagen gedient hatte, mit deren Bau. Peter I. nannte die Festung nach den beiden Heiligen Peter und Paul und ließ eine provisorische Holzkirche darin errichten. Um die Festung herum entstand rasch die Stadt Sankt Petersburg, und 1712 deklarierte der Zar sie zur Hauptstadt Rußlands. Im selben Jahr ordnete er den Abriß der Holzkirche in der Festung an, und Trezzini begann mit dem Bau der St. Peter und Paul-Kathedrale an der selben Stelle. Die von Hand gespielte Glockenmusik eines Carillons sollte die neue Kirche zieren und zur Unterhaltung der Besucher und ausländischen Bewohner von Sankt Petersburg dienen. Neben den Instrumenten, die Peter I. auf seiner Reisen durch die Niederlande 1697 bis 1698 und das heutige Belgien 1716 bis 1717 hörte, war vor allem das Carillon der Peterskirche in Riga ein Vorbild für das Vorhaben des Zaren. Nach mehreren Versuchen gelang es Peter I. 1710 jene damals zweite Hauptstadt der Schweden einzunehmen, und während eines Besuches dort im folgenden Jahr entdeckte er das Carillon. Weil das Instrument am 20. November 1709 im Zuge seiner Belagerung von Riga auseinandergenommen worden war, befahl der Zar seine sofortige Wiederherstellung, aber die lokalen Handwerker konnten es erst sieben Jahre später in Stand setzen. Dann wurden die 28 Glocken des Amsterdamer Gießers Claude Fremy anläßlich eines kaiserlichen Besuches am 17. März 1718 den ganzen Tag für den Zaren gespielt, wobei neben anderen Weisen der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern erklang. Spätestens zu diesem Zeitpunkt entschloß sich Peter der Große, daß die Hauptstadt Sankt Petersburg auch eine derartige musikalische Kostbarkeit haben müßte. Dort war der Turmbau der St. Peter und Paul-Kathedrale 1720 endlich soweit fertig, daß das dafür vorgesehene Carillon zusammen mit den Turmuhren und deren Triebwerken installiert werden konnte. Der Preis der Anlage betrug 45.000 Rubel, Uhren und Mechanik stammten aus Amsterdam. Weitere Angaben zu dem Instrument sind nicht erhalten, aber es ist anzunehmen, daß die 35 Glocken ebenfalls aus Amsterdam kamen und, wie die automatischen Glockenspiele für Moskau, von Jan Albert de Grave gegossen wurden. Der Techniker Drunk Miller sorgte für die Unterhaltung des Carillons, Uhrwerks und dessen automatischen Spielmechanismus.

Nach der Zerstörung des Carillons von Riga 1721 war das Instrument von Sankt Petersburg das einzige im russischen Reich, und es ist bis heute das einzige in Rußland geblieben. Im 19. Jahrhundert schufen die Gießer Europas nur wenige neue Instrumente, und kurz nach dem Beginn der Renaissance des Carillons am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Rußland durch den Ersten Weltkrieg und die darauffolgende Revolution von Westeuropa und dessen Carillonherstellern abgeschnitten. In den folgenden Jahrzehnten ließ die Sowjetregierung die Kirchen abbrechen oder in Museen umwandeln, die meisten Glocken des Landes verstummen und, statt Carillonglocken anzuschaffen, unzählige der vorhandenen Kirchenglocken einschmelzen. Die Tatsache, daß das Carillon und dessen Musikstücke aus westeuropäischen Melodien und Harmonien keinen Platz in der russisch-orthodoxen Liturgie hat, dürfte jedoch die Installation von Carillons in Rußland wohl am meisten gehindert haben. Die russisch-orthodoxe Kirche benutzt den Swon, eine Gruppe ungestimmter festmontierter Glocken von beliebiger Tonfolge, worauf kurze rhythmische Geläute gespielt werden. So erhielt die St. Peter und Paul-Kathedrale neben dem holländischen Carillon vermutlich bald nach der Fertigstellung des Turms auch einen russischen Swon.

    Der erste Carillonneur der St. Peter und Paul-Kathedrale war der Holsteiner Oboist Johann Christian Förster, der nach einer Angabe des kanadischen Carillonneurs und Glockensachverständigen Frank Percival Price mit dem Architekten Andreas Schlüter von Berlin nach Sankt Petersburg übersiedelt war. 1702 bis 1706 hatte Schlüter im Auftrag von Friedrich I. dem ersten König in Preußen versucht, den Münzturm des Berliner


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