Margarete Schilling: Kunst, Erz und Klang.Kapitel Glockenspiele. Henschel Verlag Berlin, 1992.

 

            Das Schlußkapitel Glockenspiele beginnt um 1900 als eine Geschichte der Glockenspiel- und Carillonherstellung der Familie Schilling und endet als eine Chronik der gesamten Arbeit der Autorin Margarete Schilling und ihres Ehemannes Franz Peter. Wer also Auskunft über deren Läuteglocken sucht, muß das Kapitel Glockenspiele lesen. Auch die Geschichte des 1938 gegossenen Schilling-Geläuts für die Potsdamer Garnisonkirche ist hier zu finden. Ansonsten belegt dieser Teil des Buches die für eine deutsche Gießerei einmalige Verbundenheit mit dem Glockenspiel und insbesonders mit dem Carillon - einem Glockenspiel mit einem Stockspieltisch, einer mechanischen Traktur und einem Umfang von mindestens zwei chromatischen Oktaven. Neben Carillons für Norwegen und Litauen und mehreren Glockenspielen für das In- und Ausland schufen Mitglieder der Familie Schilling zwischen 1910 und 1993 insgesamt 25 Carillons für Deutschland, bauten das Saalfelder Glockenspiel zu einem Carillon um und arbeiteten an einem großen Carillon für Halle mit.

            Viele der zahlreichen Abbildungen meistens guter Qualität erscheinen hier zum ersten Mal und stellen eine wertvolle Dokumentation dar. Allein dem Guß und der Lieferung des Glockenspiels für Philadelphia, USA widmet der Autorin 29 Fotos, die u.a. das typische Herstellungsverfahren in der Schilling-Gießerei um 1930 zeigen. Allerdings fehlen oft die Daten, und die Legende des seltsam zerschnitten Bildes Eugen Thiele am Übungs-spieltisch für das Glockenspiel Berlin-Wannsee, 1935 kann nicht stimmen, da laut der Autorin jenes Instrument lediglich 18 Glocken hatte und nur automatisch erklang! Der abgebildete mehroktavige Übungsapparat endet mit einer hohen f-Taste und war vermutlich für das von Thiele technisch betreute Carillon der Potsdamer Garnisonkirche mit einem Spieltisch kleines c-d-e-chromatisch-f3 bestimmt.

            Der Text liest sich gut und ist unterhaltsam, allerdings sind die Schreibweisen Garnison-Kirche und Carilloneur eigenwillig und die interessanten Zitate aus Zeitdokumenten nicht immer genau belegt. Der ungleichmäßig proportionierte Inhalt enttäuscht. Dem gesamten Carillon- und Glockenspielschaffen Friedrich Wilhelm Schillings widmet Schilling nur eine halbe Textseite, dafür bekommt der Abschnitt über die Enteignung der Apoldaer Gießerei die dreifache Menge. Über die meisten Instrumente und ihre Entstehung ist nur wenig, über das 1951 bis 1953 projektierte Schilling-Carillon für die Berliner Parochialkirche gar nichts zu lesen. Obwohl Schilling und ihr Mann 1968 bis 1993 an vierzehn Carillons selber mitarbeiteten, werden die meisten davon im Laufe von nur knapp eineinhalb Textseiten lediglich aufgezählt. Da unter den von Schilling skizzierten widrigen Arbeitsumständen nur Carillons von schlechter Qualität zu produzieren waren, schreibt sie sechseinhalb Textseiten über einige der Vorkriegsinstrumente und zitiert dabei sogar ein Gutachten über ein Glockenspiel aus einer anderen Gießerei, weil es auch ein Schilling-Instrument preist.
    Neben diesen Mängeln enthält der Text viele Unklarheiten und Fehlangaben, wie Schillings Behauptung, daß der Berliner Carillonneur Wilhelm Bender vor die Aufgabe gestellt war, die zu jener Zeit fast erloschene Tradition des Glockenspiels wiederzubeleben
. Benders Vorgänger Hans Siepert, der von 1920 bis 1936 tätig war, spielte neben seinen regulären Sonntagsdienst jeden Mittwoch ein zusätzliches Carillonkonzert auf eigene Initiative, bot wiederholt Turmmusiken mit Blechbläsern dar, verteilte Programme und war sogar im Rundfunk zu hören. Ende 1935 führte er halbstündige Abendkonzerte bei beleuchtetem Turm ein, im folgenden Jahr gab sein Assistent Reinhold Grassnick fünfzehn solche Sonderveranstaltungen, u.a. vier für die Olympiade. Bender hat die Berliner Carillontradition nicht wiederbelebt sondern sie erfolgreich weitergeführt. Schilling hebt seine Verdienste wegen der engen Zusammenarbeit mit der Gießerei hervor, und weil sie den Familienbetrieb mit dem Glanz möglichst vieler namhaften Personen wie Elly Ney, Percival Price, Dupont, usw. in Verbindung bringen will. Dabei vergißt sie aber zu erwähnen, daß Bender Musikreferent bei der Hitlerjugend war und seine Carillonkonzerte immer wieder dazu benutzte, die Nazi-Propaganda öffentlich zu unterstützen.
    Auch Schillings Behauptung, daß 1939 mehr als vierzig Aufträgen für die Lieferung von Glockenspielen (je 23-60 Glocken) in der Apoldaer Gießerei vorlagen
, ist nach ihrem Mann nur durch einen Aktennotiz zu belegen. Obwohl Schilling das Carillon gleich zu Beginn des Kapitels definiert, stellt sie im folgenden Text oft überhaupt nicht klar, ob das jeweils besprochene Instrument ein Glockenspiel oder ein Carillon sein sollte. Der Unterschied ist dennoch sehr wichtig, denn ein Carillonneur kann mit seiner Spieltechnik und seinem Repertoire genausowenig mit einer elektrischen Glockenspielklaviertastatur anfangen wie ein Pianist mit einem Carillonstockspieltisch. Wenn die Pianistin Elly Ney wirklich ein Schilling-Instrument in Sonthofen gespielt haben sollte, dann vermutlich nicht ein im Text genanntes Carillon, sondern ein Glockenspiel mit elektrischer Klaviertastatur. Auch das von Schilling abwechselnd als Carillon und Glockenspiel bezeichnete Instrument für Philadelphia war ein Glockenspiel mit Klaviertastatur. Die Liste der Schilling-Glockenspiele im Anhang unterscheidet ebenfalls nicht zwischen den beiden Instrumenten, und man sucht dort vergebens nach Frau Neys Sonthofener Glockenspiel und dem kleineren Glockenspiel bei Tigges am Brückchen in Düsseldorf. Die in der Liste enthaltenen Angaben zum Danziger Carillon sind eindeutig falsch. Das Instrument umfaßte nicht 39 sondern nur 37 Glocken und wog keineswegs 27 Tonnen. Die As0- und B0-Glocken gehörten nach Peter Schilling nicht zum Carillon sondern nur zum gleichzeitig gelieferten Geläut. Dies belegen auch die beiden Werbebroschüren der Gießerei Franz Schilling Söhne mit den Titeln Das Lied von der Glocke (o.O.[Apolda?] o.J.[1913?], S. 15f.) und Hofglockengießerei Franz Schilling Söhne Apolda (o.O.[Apolda] o.J.[1927], S. 19 und S. 37). Über dieses erste Schilling-Carillon erfährt der Leser auf S. 171 und 197 sonst nur, daß es das zu jener Zeit [1910] größte der Welt gewesen sein soll. In Wirklichkeit hingen die damals beiden größten Carillons der Welt mit jeweils 47 Glocken in Mafra, Portugal und Brügge, Belgien. Die damals größten Instrumente Deutschlands mit jeweils 43 und 41 Glocken gehörten dem Hamburger St. Petrikirche bzw. der Potsdamer Garnisonkirche. 

            Die sehr persönliche Sicht von dieser Geschichte der Schilling-Glockenspiele, die sich in den Briefzitaten, in den Fotos von Franz Peter Schilling und seiner Arbeit und in der Auswahl des Materials widerspiegelt, ist eine der wichtigsten und reizvollsten Qualitäten dieser Chronik. Die Kehrseite ist die etwas einseitige und verschönernde Darstellungsweise. Das lobende Gutachten über das 1939 gegossene Schilling-Carillon für Frankfurt am Main wird in voller Länge abgedruckt ohne zu erwähnen, daß die Glocken bereits 17 Jahre später wegen zu schlechter musikalischen Qualität umgegossen werden mußte. Zahlreiche Pannen und Mißstände wie das fast unspielbare Schweriner Carillon, der Fehlguß des als G0 projektierten Gis0-Bourdons des Carillons im Berliner Kuppelturm der französischen Kirche, die allgemein schlechte Stimmung der in der DDR hergestellten Instrumente ect. werden übergangen. Und viele Fragen bleiben offen. Warum befürworteten die Schillings den Einbau eines Carillons im geschlossenen Kuppelturm der französischen Kirche in Berlin, wo es draußen nicht zu hören und innen viel zu laut ist?

            Es ist nicht zu leugnen, daß das Glockenspiel- und Carillonschaffen der Schillings von großer Bedeutung für die deutsche Carillongeschichte war, und daß Franz Peter und Margarete Schilling trotz miserabler Arbeitsbedingungen eine lebendige Carillonkultur in der DDR schufen. Schade daß Schilling, die über den umfangreichen Archiv im eigenen Haus verfügt und gar den wichtigsten Teil dieser Geschichte persönlich mitgestaltete, sie so oberflächlich, unzulänglich und ungleichmäßig darstellt. Sind die seit ihrem ersten Buch unverändert wiederholten falschen Angaben zum Danziger Carillon nur Schlamperei oder ein bewußtes an-den-Tatsachen-Vorbeischreiben? Es ist nur zu hoffen, daß eines Tages unvoreingenommene Kampanologen eine ausgewogene, lückenlose und wissenschaftliche Darstellung dieses wichtigen Kapitels der deutschen Carillongeschichte liefern werden. Bis dahin ist dieser durchaus interessanter Beitrag mit großer Vorsicht zu lesen.

 

Jeffrey Bossin


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Jeffrey Bossin