Glockenklang und Elektronik

 Das Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin und das Carillon an der Kongreßhalle in Berlin-Tiergarten 1988-1995


Von Jeffrey Bossin

 

    Ein Carillon ist ein Musikinstrument, das in der Regel 48 bis 60 gestimmte Glocken umfaßt. Es hängt gewöhnlich hoch über dem Erdboden in einem Turm, von dem aus sein Klang in einem Umkreis von mehreren hundert Metern hörbar ist. Dieses Musikinstrument hat einen hölzernen Spieltisch, der meistens in einer Spielkabine in der Glockenkammer steht. Der Spieltisch hat eine obere Reihe von kurzen und eine untere Reihe von langen Tastenstöcken, die den schwarzen bzw. weißen Tasten eines Klaviers entspricht. Dazu gibt es eine Reihe Pedale mit langen flachen Fußtasten für die Ganz- und kurzen, hohen, weit zurückversetzten für die Halbtöne. Der Carillonneur sitzt auf einer Bank und schlägt mit geballten Fäusten oder gespreizten Händen die Tastenstöcke nieder, während er gleichzeitig die Pedale tritt. Stöcke und Pedale des Spieltisches sind über Seilzüge und über eine Wellenmechanik mit den Glockenklöppeln verbunden, die auf diese Weise gegen die festmontierten Glocken gezogen und zum Klingen gebracht werden. Das Spiel des Carillonneurs wird somit mechanisch direkt in Glockenklang umgesetzt: je stärker der Schlag, desto lauter der Ton. Dies ermöglicht einen musikalischen Vortrag, der dem Spiel eines jeden Carillonneurs eine eigenständige Qualität verleiht.

    Das Carillon an der Kongreßhalle in Berlin-Tiergarten hängt in einem eigens dafür errichteten Turm an der Ecke John-Foster-Dulles- und Großer Querallee.[i] Es hat 68 Glocken mit einem Gesamtgewicht von 48 Tonnen. Die kleinste Glocke wiegt acht Kilogramm und die größte 7,8 Tonnen. Es ist das sechstgrößte Carillon der Welt und umfaßt fünfeinhalb Oktaven von der f0 bis zur c6 Glocke, die als großes G bis d5 am Spieltisch angeschlossen sind. Es ist eines der wenigen vollchromatischen Carillons und erfüllt somit alle Anforderungen, die an ein modernes Musikinstrument gestellt werden. Der ausgedehnte Umfang des Instruments in Berlin-Tiergarten bietet dem Carillonneur die breitmöglichste Klangpalette. Das Berliner Carillon wurde 1987 von Daimler-Benz anläßlich der 750-Jahr-Feier Berlins gestiftet und von der Gießerei Koninklijke Eijsbouts gebaut. Die Installation des Instruments hatte ich dem Berliner Senat bereits 1984 vorgeschlagen. Während der folgenden Jahre arbeitete ich als Berater für das Projekt, erstellte als Carillonsachverständige die umfangreichen technischen Spezifikationen für das Instrument nach dem Vorbild des nordamerikanischen Grand Carillons und spielte nach Fertigstellung des Instruments und seines Turms das Einweihungskonzert.[ii] 1988 übertrug mir der Senator für Kulturelle Angelegenheiten die regelmäßige Bespielung des Instruments.
    Seitdem suche ich als Carillonneur und Leiter des Veranstaltungsbüros CarillonConcertsBerlin
nach Möglichkeiten, das Carillon in das Musikleben der Stadt zu integrieren und die Schaffung neuer Werke dafür anzuregen. Wie die meisten Carillons hängt auch das Berliner Instrument in einem Turm weit abseits von den meisten Veranstaltungsorten für Konzerte und spielt in keinem Orchester oder Kammerensemble mit. Seit der Entstehung des Carillons vor mehreren Jahrhunderten ist es den Komponisten weitgehend unbekannt geblieben, und sie schrieben keine Stücke dafür. Die meisten Originalwerke stammen von Carillonneuren und entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Bisher haben nur einige weniger bekannten und eine kleine Anzahl namhafter Komponisten Stücke für Carillon geschaffen, darunter Henk Badings, Samuel Barber, Edward Elgar und Gian Carlo Menotti.

    Zwischen 1988 und 1993 fanden vier Konzerte mit Carillon und Elektronik in Berlin-Tiergarten statt. Konzerte mit dem Elektronischen Studio der Technischen Universität schienen mir eine gute Gelegenheit, das Repertoire für das Instrument durch neue Werke für Carillon und Elektronik zu erweitern und gleichzeitig mit einer der wichtigen Musikinstitutionen Berlins zusammenzuarbeiten. Durch mein Studium im Hauptfach Musikwissenschaft an der TU und meine Arbeit im Elektronischen Studio, wo ich als Mitglied der Gruppe "Klangwerkstatt" einige eigenen elektronischen Kompositionen fertigstellte, war ich mit dessen Leiter, Folkmar Hein, gut bekannt. Hein wiederum war als akustischer Berater am Bau des Carillonturms beteiligt und mit dem Instrument gut vertraut. So gehörte zu den Konzerten, die er als Leiter der Werkstatt Elektroakustischer Musik im Rahmen des Programms zu Berlin - Kulturstadt Europas 1988 veranstaltete, auch eins mit Carillon und Elektronik.

    Gleich im Frühling 1988 beauftragte Hein den argentinischen Komponisten Ricardo Mandolini, ein neues Werk für das Konzert zu schreiben. Mandolini machte sich mit dem Carillon vertraut und schuf im Laufe von einigen Monaten eine Komposition mit dem Titel Vox veterrima, "Der uralte Ausruf", für Carillon, Elektronik und Midi. Die Uraufführung fand am 20. und 21.August 1988 während zwei Konzerte mit dem Motto Avantgarde auf dem Carillon statt, die auch die Werke Tower Music (1987) und For Carillon (1988) für Solocarillon von dem Amerikaner Roy Hamlin Johnson bzw. dem Ungarn Lásló Dubrovay zum ersten Mal erklingen ließen.

    Die Grundlage von Vox veterrima bildet ein Tonband mit elektronisch verfremdeten Glockenklängen. Zuerst machten die Mitarbeiter des Elektronischen Studios möglichst saubere und störungsfreie Aufnahmen der einzelnen Carillonglocken mitten in der Nacht im Turm (Trotzdem hatten sie immer wieder gegen bellende Hunde, zwitschernde Vögel, vorbeifahrende Autos und lautstarke Passanten anzukämpfen). Im Elektronischen Studio ersetzte Mandolini mit Hilfe eines Samplers die schlecht geratenen durch Transpositionen der gut gewordenen Aufnahmen. Er benutzte die so zusammengestellten 68 Glockentönen, um Motive  auf einem Synclavier zu spielen oder verarbeitete sie zu Geräuschen. Motive und Geräusche stellte Mandolini zu drei verschiedenen Stimmen auf Tonband zusammen. Das fertige Band mit jeweils einer Stimme auf einem von drei Kanälen läuft während der ganzen Aufführung. Der Carillonneur bedient sein Instrument und der Pianist spielt die Midi-Stimme auf einem Keyboard, dessen Tasten das Anschlagen von Hämmern auf den Außenseiten der Glocken c2 bis c4 elektrisch steuert.[iii] Bei der Uraufführung wirkten ich als Carillonneur und Mandolini als Midi-Spieler im Turm mit, und Hein regelte die Elektronik vom Mischpult am Erdboden aus. Das Tonband war aus drei Lautsprechern zu hören: je einer auf dem Erdboden links und rechts vom Turm und ein weiterer im Turm in etwa 20 Meter Höhe. Diese Verteilung verlieh dem Werk eine beeindruckende Raumwirkung.

    Vox veterrima besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste dauert dreizehn Minuten und umfaßt die Abschnitte Initia nascendi, Ignis ingens, Divinum testimonium, Praeconium, Concilia populi, Intuitio tenebris und Calamitas bellum, der zweite mit den Abschnitten Novum mysterium und Aestus minantes dauert dreieinhalb Minuten.[iv] Der stürmische Verlauf des Werks hat eine sorgfältig gebaute, in mehreren dynamischen Höhepunkten gipfelnde Form. Verschiedene Texturen und Kombinationen von elektronischen und Instrumentalklängen folgen aufeinander in einsfallsreicher Abwechslung. Die einzelnen musikalischen Elemente - Arpeggien, Arabesken und kadenzaartige Figuren, wiederholte Töne und Tremoli sowie Akkorde und Akkordmotive - werden eingeführt und in bestimmten Abständen in variierter Form wiederholt und weiterentwickelt. Die Komposition beginnt mit einem Dialog zwischen Tonband und Carillon aus Arabesken und wiederholten Tönen in höchster Lage. Im zweiten Abschnitt Ignis ingens öffnet sich der Klangraum allmählich, und der erste Hauptgedanke, der mehrmals angeschlagene Akkord a-cº-aª-c, erklingt im Carillon (ab 2' 42"). Im Verlauf des Stückes folgen drei weitere Hauptgedanken - die Carillon-Arpeggien dº-h-dª-gª-b-d (ab 5' 21"), der Tonband-Akkord cº-f-a-c-e (ab 6' 28") und der Midi-Akkord c-d-g-h-cº-dº-fº-aº (Weiterentwicklung des ersten Hauptgedanken; ab 7' 10") -, die Mandolini zu Passagen mit virtuosen Figuren entwickelt. Das Werk schließt mit dem vierten Hauptgedanke, der sich während eines großen Crescendos ständig wiederholt. Die aufgestaute Spannung wird von einem riesigen abwärtsgleitenden Tonbandglissando gelöst, das das Ende des Stücks in die Tiefe reißt.

    Vox veterrima stellt hohe spieltechnische Forderungen an den Carillonneur. Um zum richtigen Zeitpunkt einsetzen zu können, spielte ich aus der vollständigen Partitur, die aus 53 von DIN A3 auf DIN A4 verkleinerten handgeschriebenen Blättern besteht. Da die Komposition den vollen fünfeinhalboktavigen Umfang des Berliner Carillons benutzt, teilte ich die Seiten der Partitur in vier verschiedenen Haufen und stellte diese auf den 2,34 Meter langen Notenpult des Carillonspieltisches so, daß die entsprechenden Noten direkt über den jeweils zu spielenden Tastenstöcken lagen. Während der Aufführung blätterte ein Assistent für mich um und zeigte mir, aus welchem der vier Haufen ich gerade zu spielen hatte. Ich mußte also meinen Platz am Spieltisch immer wieder wechseln ohne die Konzentration zu verlieren, damit ich viele der beim raschen Tempo kaum zu lesenden Figuren auswendig spielen konnte. Eine einwandfreie Aufführung ist schwer zu realisieren, und im Laufe der Zeit mußte Mandolini ein paar unausführbaren Carillonpassagen streichen und einige wichtige Änderungen an der Partitur vornehmen.[v] Dennoch ist Vox veterrima ein sehr beeindruckendes Werk, das traditionelle Kompositionstechniken mit Elektronik und Carillonklängen meisterhaft verbindet. Wegen des großen Umfangs des dafür benötigten Instruments und der zusätzlichen Midi-Stimme läßt sich die gegenwärtigen Fassung von Vox veterrima jedoch nur in Berlin-Tiergarten spielen; erst eine Version für ein vieroktaviges Carillon mit ad libitum



[i] Das Carillon an der Kongreßhalle wird seit Januar 1993 von dem Haus der Kulturen der Welt verwaltet, einer GmbH, die ihre Räume in der Kongreßhalle neben dem Carillonturm hat. Seit dieser Zeit heißt das Instrument Das Carillon am Haus der Kulturen der Welt. Da die Anbindung jedoch wahrscheinlich nur von vorübergehender Dauer ist, wird in diesem Artikel die ursprüngliche Bezeichnung "Carillon an der Kongreßhalle" beibehalten.

[ii] Ein Grand Carillon umfaßt mindestens 53 festmontierte, temperiert gestimmte Molloktavglocken und einen Umfang von viereinhalb Oktaven. Der Stockspieltisch hat mindestens die Tastenstöcke großes G-A-chromatisch-c4 und mindestens die Pedale großes G-A-chromatisch-a1, üblicherweise die Pedale großes G-A-chromatisch-c2. Eine Glocke mit dem Ton a0 oder tiefer und einem Gewicht von vier Tonnen oder mehr ist an das große G-Pedal des Spieltisches gekoppelt. Nordamerika besitzt gegenwärtig dreizehn und Europa drei Grand Carillons.

[iii] Bei den ersten beiden Aufführungen von Vox veterrima spielten außerdem vier Schlagzeuger mit, die die Außenseiten einer Anzahl der mittleren und kleineren Glocken mit Hämmern anschlugen.

[iv] Die Schreibweise der hier wiedergegebenen lateinischen Bezeichnungen der Abschnitte von Vox veterrima wurde aus der Partitur genau übernommen, ohne sie zu redigieren.

[v] Da sich die Schlagzeuger nach den beiden Aufführungen im 1988 als unpraktisch erwiesen, wurden die Schlagzeugstimmen von der Partitur entweder gestrichen oder dem Midi-Spieler zugeteilt.


© Jeffrey Bossin